Sie kommen!: Ein Blog vom Ende der Welt (German Edition)
studentischen Rebellionsphase befindet. Sie und Ted kleiden sich fast identisch, und beide haben harmlose Tätowierungen, die einfach nicht heftig genug sind, um die beiden zu Draufgängern zu machen.
Sie gehen miteinander, oder genauer ausgedrückt, leben im Zustand der Symbiose. Deshalb haben Janette und ich uns angewöhnt, sie Hollianted zu nennen. Sie sind nie getrennt. Sie sind eins. Mittlerweile sprechen wir sie direkt so an, was sie ein bisschen vor den Kopf stößt, wohl weil sie verzweifelt danach streben, Individuen mit einer bedeutungsvollen Persönlichkeit zu sein. Ich habe ihnen erklärt, erst wenn sie sich für zehn Minuten voneinander losreißen könnten, würden wir ihnen separate Namen zugestehen.
»Bis dahin«, teile ich ihnen bei einem mageren Mittagessen aus Salzerdnüssen und Doseneistee mit, »seid ihr Hollianted.«
Ich finde das nicht gemein. Es klingt doch nett, wie ein religiöser Feiertag. Janette meint das auch. Wir necken sie ein bisschen, indem wir einander fragen: »Was besorgst du deinem Vater dieses Jahr zu Hollianted?« oder »Was sind denn deine guten Vorsätze für Hollianted? Ich glaube, ich werde mit Schokoladeessen aufhören.«
Ted ist chinesischer Austauschstudent. Ich konnte mir ums Verrecken nicht vorstellen, warum er sich als amerikanischen Namen ausgerechnet Ted ausgesucht hat. Dann erzählte er mir, seine Mutter habe ihm jedes Jahr zum Geburtstag einen Teddy geschenkt, und im Haus seiner Eltern in Hongkong habe er eine große Sammlung Teddys aus aller Welt. Da verstand ich es. Allein in den Staaten, neu am College und gezwungen, sich mit einem völlig Fremden ein Zehnquadratmeterwohnklo zu teilen – da würde ich mir auch einen Namen mit einer wärmenden Geborgenheitskonnotation suchen.
Puh, ich fürchte, ich wäre wohl bei Emma oder Hermione gelandet.
Ted studiert Biochemie an der Universität. Er hat diesen Blick, diesen erschreckend intelligenten Naturwissenschaftlerblick, den wir Literaturabsolventen auch mit höchsten Abschlüssen fürchten. Wie Phil kommt Ted mir vor, als stamme er von einem anderen Planeten. Er murmelt Formeln im Schlaf. Angeblich hilft es ihm, das Klopfen und Knurren vor der Tür zu verdrängen.
C-sechs, H-sechs Benzol, A-G-zwei-O Silberoxyd, C-U-Fe-S-zwei Kupfereisensulfit …
Eisen. Dabei fällt mir ein: Wir haben nur zwei Waffen.
Das klingt nach wenig, aber ich bin ehrlich überrascht, dass wir in diesem Laden überhaupt welche auftreiben konnten. Wir lassen ja nicht mal die Kartonschneider griffbereit herumliegen. Letztes Jahr wurde eine Bäckerei in unserer Straße mit einer Heckenschere überfallen, seitdem ist Phil völlig paranoid und besteht darauf, scharfe Gegenstände zu verstecken. Diese Paranoia dürfte vor kurzem ein paar Leute das Leben gekostet haben.
Glücklicherweise habe ich im hinteren Lagerraum einen kleinen Schatz entdeckt, an dem ich monatelang vorbeimarschiert war, ohne ihn je zu bemerken. Ein roter Knopf und ein Glaskasten mit einer knallroten Axt können sich nahezu unsichtbar in die Szenerie einfügen. Man nimmt solche Dinge einfach gar nicht wahr, so lange, bis aus allen Richtungen Schreie gellen, Fenster platzen und sich Blutlachen über die grün-beige gefliesten Gänge zwischen den Regalen ausbreiten …
Jedenfalls habe ich sie entdeckt. Und zwar gerade noch rechtzeitig. Phil hatte mich mit einer der unangenehmsten Aufgaben von allen betraut: die Regale im hinteren Lagerraum säubern. Sie reichen bis zur Decke hinauf, mit ungefähr vierzig Zentimeter Abstand zwischen den Borden, und verstauben innerhalb weniger Wochen in unfassbarer Weise. Ich habe keine Ahnung, woher all dieser Staub überhaupt kommt, aber er landet zu etwa neunzig Prozent in diesen verdammten Regalen. Phil stört es nicht, dass ich unter Stauballergie leide, er würde niemals einen Abteilungsleiter mit Putzarbeit betrauen, also bin ich dran, immer ich.
Dass er mich nach hinten schickte, hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet. Es brachte mich zu dem Feueralarm und damit in unmittelbare Nähe einer alten, vergessenen Axt.
Als ich nämlich dasitze und auf den Monitor starre, fällt mir eine infizierte Kreatur auf, und zwar aus drei Gründen:
1) Weil sie eine Stammkundin war – ist. Sie heißt Susan und hat sechs Ausgaben von Die Hütte – Ein Wochenende mit Gott gekauft. Sechs Stück. Kein Scheiß. Sie hat die Figur einer alten, matschigen Birne und trägt die hässlichste Brille, die ich je gesehen habe. Diese Linsen sehen aus, als
Weitere Kostenlose Bücher