Sie nennen es Leben
Internet noch nicht gelöst, denn mit den Sicherheitseinstellungen wird nur geregelt, wer Zugang zu den Daten hatâ nicht was mit diesen später passiert. In der Diskussion darüber, wie die Privatsphäre im Netz am besten geschützt werden kann, wird deshalb auch zwischen den Prinzipien Zugang und Kontrolle differenziert. Nur wer auch Kontrolle darüber hat, ob und wie die eigenen Daten archiviert und ausgewertet werden, ist umfassend vor Missbrauch geschützt. Die Verweise von Plattformanbietern, sie würden detaillierte Sicherheitseinstellungen anbieten, kann man deshalb noch nicht als ausreichenden Datenschutz bezeichnen.
Gerade Jugendliche tendieren aber dazu, sich und ihre Daten geschützt zu fühlen, solange sie darüber bestimmen können, wer sie einsehen kann. Was ein Plattformanbieter mit Informationen wie ihrer Lieblingskleidungsmarke oder dem letzten gekauften Computerspiel anfangen soll, ist ihnen meist schleierhaft oder egal. Hauptsache, Eltern und Lehrer sehen nicht, was sie posten. Was sind nun sinnvolle MaÃnahmen, um die Daten von Kindern und Jugendlichen online besser zu schützen?
Falsche Frage, wenden Netz-Kritiker oft ein: Im Internet gibt es keinen wirklichen Datenschutz. Was einmal gepostet ist, ist für immer öffentlich. Wer absolute Privatsphäre will, darf überhaupt nichts online veröffentlichen.
Das leuchtet auf den ersten Blick ein, vor allem wenn man sich die aktuellen Datenskandale von SchülerVZ und Facebook anschaut. Social Networks haben aber im Leben von Jugendlichen eine so wichtige Rolle eingenommen, dass sie aus ihrem Alltag kaum mehr wegzudenken sind. Komplettausstieg ist deshalb keine realistische Option. Aber auch konzeptionell überzeugt die Forderung nach Online-Abstinenz nicht. Sie verkennt nämlich, dass Privatsphäre im Kern etwas höchst Soziales ist.
Das zeigt sich schon an einem sehr einfachen Beispielâ nämlich einem Menschen, der auf einer einsamen Insel gestrandet ist. Keine seiner Handlungen wird von einem anderen Menschen beobachtet, geschweige denn aufgezeichnet. Dennoch würde man hier nicht von Privatsphäre sprechen, denn die entsteht nur in Abgrenzung zu Ãffentlichkeit.
Gleichzeitig gibt es aber auch Privatsphäre innerhalb von Ãffentlichkeit. Das klingt kompliziert, wird aber von uns täglich gelebt. Ein Beispiel dafür ist das Gespräch im Restaurant. Auch wenn wir uns für einen öffentlichen Ort als Treffpunkt entschieden haben, erwarten wir, dass wir uns ungestört mit unserer Begleitung unterhalten können und weder die Tischnachbarn noch die Bedienung sich einschalten.
Denselben Anspruch müssen wir auch hinsichtlich der neuen Medien erheben können, fordert Helen Nissenbaum. Die New Yorker Kultur- und Kommunikationswissenschaftlerin hat mit ihrem Buch » Privacy in Context « eine der interessantesten Analysen zu Ãberwachung und Datenschutz geschrieben. Sie ist der Ãberzeugung, dass es nicht sinnvoll ist, Privatsphäre und Ãffentlichkeit theoretisch zu definieren. Die Bedeutung beider Konzepte würde sich vielmehr erst aus dem jeweiligen sozialen Zusammenhang erschlieÃen, in dem Informationen flieÃen. So sind wir froh, wenn unser Arzt Einblick in unsere detaillierte Krankenakte hat und auf dieser Grundlage eine Diagnose erstellen kann. Dieselben Informationen frei verfügbar im Internet wären hingegen ein Alptraum. Genauso macht es uns nichts aus, wenn jemand in der Schlange im Coffee-Shop sieht, wie wir einen Soja Chai Latte kaufen. Würde sich dieser jemand aber unsere Bestellung notieren und sie mit denen der vergangenen Tage vergleichen, wären wir empört.
Nissenbaum plädiert deshalb dafür, eine neue Anwendung wie etwa Facebooks » Instant Personalisation « (eine Einstellung, nach der persönliche Lieblingswebsites automatisch gekennzeichnet und Freunden angezeigt werden) nicht danach zu bewerten, ob sie die Privatsphäre an sich verletzen würde. Der bessere MaÃstab wäre ein Konzept, das sie » contextual integrity « nenntâ die Unversehrtheit des Kommunikationskontextes. Dieses Konzept erscheint zunächst eher akademisch, ist aber in Wirklichkeit eine sehr praktische Orientierungshilfe bei der Beurteilung, wann unsere Privatsphäre verletzt wird.
Das Konzept der »contextual integrity«
Für Nissenbaum hat » contextual integrity « vier Bestandteile. Erstens den
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