Sie nennen es Leben
Konsumenten und entwickelten eigene Produkte und Zeitschriften für sie, die bald zu einem eigenständigen Markt wurden.
Mit dem Aufstieg der USA zur politischen und ökonomischen Weltmacht kam schlieÃlich auch der Aufstieg des Jugendlichen als Motor gesellschaftlichen Wandels: Jugendliche, das war auf einmal nicht nur eine Gruppe, die zahlenmäÃig auftrumpfte. Mit eigenen Werten, Regeln und Geschmäckern grenzte sie sich auch bewusst von den Eltern ab und formierte sich als Gemeinschaft. Was in ihr galt, würde bald für die gesamte Gesellschaft gelten. Es entstand, was im Laufe der Zeit einen sehnsuchtsvollen Beiklang entwickeln sollte: Jugendkultur.
Seitdem stehen Jugendliche unter genauester Beobachtungâ von ihren Eltern, die prüfen wollen, welche Regeln und Werte ihre Kinder von ihnen übernehmen werden, und von Gesellschaftskritikern und -forschern, die sehen wollen, welche Regeln und Werte die Jugendlichen neu schaffen.
Was bleibt, was kommt? Was verlieren wir, was gewinnen wir? Nach diesem Muster diskutieren Erwachsene seitdem Jugendkulturenâ und so auch die Kultur, die sich Kinder und Jugendliche mithilfe des Internet schaffen. Sieht man sich noch einmal die Tabelle mit dem Vergleich zwischen euphorischer und apokalyptischer Haltung zur Digitalisierung an, bestätigt sich dieses Muster erneut: Die Euphoriker feiern die Gewinne, die Apokalyptiker betrauern die Verluste.
Dieser Lagerkampf verschärft sich besonders, wenn ein neues Massenmedium entsteht. Der britische Historiker John Springhall hat das anschaulich an einem Beispiel herausgearbeitet, das zunächst sehr fern zu liegen scheint: an den » penny gaffs « , den Kleinkunsttheatern, die im viktorianischen England um 1820 herum eine kurze Blütezeit erlebten. Die » Groschenkaschemmen « hatten ihren Namen wegen ihres niedrigen Eintrittspreises, aber auch ihr Angebot war nicht gerade hochwertig. Für heutige MaÃstäbe boten sie ein reichlich unübersichtliches Programm mit mehreren Theaterstücken sowie Musikeinlagen innerhalb einer einzigen Vorstellung an. Unter Kindern und Jugendlichen waren die » penny gaffs « wegen dieser Vielfalt und natürlich auch wegen des günstigen Eintrittspreises äuÃerst beliebt. Vor allem boten sie ihnen aber eine der wenigen Möglichkeiten, sich nach Arbeitsende und jenseits der StraÃe zu treffen und zu amüsieren.
Zeitgleich häuften sich in den englischen Medien die Berichte über die steigende Kriminalität unter jungen Menschen. Obwohl es keine Beweise dafür gab, wurden im öffentlichen Bewusstsein die beiden neueren Entwicklungen miteinander verknüpftâ und plötzlich galten die » penny gaffs « als Auslöser für die moralische Verwahrlosung von Kindern und Jugendlichen. » Keimzellen der Sünde in ihrer übelsten Form « , nannte der Sozialreformer Blanchard Jerrold die Theater, » der Ort, an dem jugendliche Armut auf jugendliches Verbrechen trifft. « Eine Medienkampagne gegen die Unterhaltungskaschemmen setzte ein, und die Polizei verschärfte die Lizenzauflagen für die » gaffs « derart, dass sie letztlich jeden Künstler, der in ihnen auftrat, wegen LizenzverstöÃen verhaften konnte.
Das Ende der » penny gaffs « wurde allerdings durch zwei ganz andere Entwicklungen besiegelt: zum einen verlängerte sich die durchschnittliche Schulzeit, sodass es insgesamt weniger stromernde Kinder auf den StraÃen gab. Zum anderen stiegen die Standardlöhne, so dass sich Jugendliche, die bereits arbeiteten, teurere Unterhaltungsangebote als die » gaffs « leisten konnten.
Die Kontroverse um die » penny gaffs « ist damit gleich doppelt beispielhaft dafür, wie um Jugendliche und ihre Lieblingsmedien gestritten wird: Einerseits zeigte sich, dass sich mit den Lebensumständen von jungen Menschen auch ihre Vorlieben, wie sie ihre Freizeit verbringen, verändertenâ der Aufstieg (und Fall) eines Mediums kommt also nicht von ungefähr, sondern hängt eng mit gröÃeren gesellschaftlichen Entwicklungen zusammen.
Andererseits hat der Streit um die » penny gaffs « auch das Muster vorgegeben, nach dem Erwachsene auf das Aufkommen eines neuen Jugendmediums reagieren. » Jedes Mal, wenn die Einführung eines neuen Massenmediums als Bedrohung für die Jugend definiert wird, können wir erwarten, dass sich Erwachsene für Regulierung,
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