Sie sehen dich
drehte sich zur strohhaarigen Frau um. Auch die starrte sie an.
»Weil Ihre Augen ganz rot sind«, fuhr er fort. »Ich will Sie ja nicht belästigen, aber ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Mir geht’s gut«, sagte Marianne. Sie nahm an, dass sie leicht lallte. »Ich will bloß in Ruhe meinen Tequila trinken.«
»Okay, hab schon verstanden.« Er hob die Hände. »Will ja nicht stören.«
Marianne sah zu Boden. Sie wartete darauf, dass sich am Rand ihres Blickfelds etwas bewegte. Das geschah nicht. Der Mann mit dem Schnurrbart stand immer noch neben ihr.
Sie trank noch einen kräftigen Schluck. Der Barkeeper polierte ein Glas so geschickt, wie man es nur konnte, wenn man das schon sehr lange machte. Sie rechnete fast damit, dass er im nächsten Moment wie in einem alten Western hineinspucken würde. In
der Bar war es ziemlich dunkel. Hinter der Theke hing der übliche dunkle Spiegel, in dem man die anderen Gäste in einem rauchigen aber dennoch schmeichelhaften Licht betrachten konnte.
Marianne beobachtete den Schnurrbartträger im Spiegel.
Er musterte sie mit feindseligem Blick. Sie schaute die leblosen Augen an und konnte sich nicht bewegen.
Langsam verwandelte sich sein feindseliger Blick in ein Lächeln, worauf sich ihre Nackenhaare aufrichteten. Als er sich abwandte und ging, stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus.
Sie schüttelte den Kopf. Kain hatte sich mit einer Äffin fortgepflanzt – na herzlichen Dank, Kumpel.
Sie griff nach ihrem Drink. Das Glas zitterte in ihrer Hand. Diese idiotische Theorie war zwar eine nette Ablenkung gewesen, trotzdem kehrten ihre Gedanken sofort wieder an den finsteren Ort zurück.
Sie dachte daran, was sie getan hatte. Hatte sie das wirklich für eine gute Idee gehalten? Hatte sie es richtig durchdacht – den Preis, den sie dafür zahlen musste berücksichtigt, die Konsequenzen, die es für die anderen Beteiligten nach sich zog, die Leben, die sich für immer veränderten?
Wohl eher nicht.
Es hatte Verletzungen gegeben. Ungerechtigkeiten. Kränkungen. Blinde Wut und den primitiven Wunsch nach Rache. Und sie meinte nicht diesen biblischen (oder ihretwegen auch evolutionären) »Auge um Auge«-Mist. Wie hatten sie das genannt, was Marianne getan hatte?
Einen massiven Vergeltungsschlag.
Sie schloss die Augen und rieb sich die Augenlider. Ihr Magen rumorte. Das kam wohl vom Stress. Sie öffnete die Augen wieder. Die Bar kam ihr dunkler vor. In ihrem Kopf drehte sich alles.
Dafür war es zu früh.
Wie viel hatte sie getrunken?
Sie hielt sich am Tresen fest, wie man das in den Nächten tat,
in denen das Bett anfing, sich zu drehen, wenn man sich nach zu ausgiebigem Alkoholgenuss festklammern musste, weil die Zentrifugalkraft einen sonst durchs Fenster schleudern würde.
Das Rumoren im Magen nahm zu. Dann riss sie plötzlich die Augen auf. Ein stechender Schmerz schoss ihr in den Unterleib. Sie öffnete den Mund, bekam aber keinen Schrei heraus. Die unerträgliche Qual erstickte sie. Marianne klappte zusammen.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Strohhaars Stimme. Sie schien sehr weit entfernt zu sein. Marianne hatte furchtbare Schmerzen. Das waren die schlimmsten seit, tja, seit dem Kindbett. Seit sie ihr Kind geboren hatte – Gottes kleiner Test. Hey, pass mal auf – dieses kleine Wesen, um das du dich kümmern musst und das du mehr als dich selbst lieben sollst, verursacht dir so unglaubliche Schmerzen, wenn es herauskommt, das kannst du dir gar nicht vorstellen.
Nette Art, eine Beziehung anzufangen, oder?
Was Schnurrbart dazu wohl einfallen würde?
Rasierklingen – wenigstens fühlte es sich so an – bohrten sich in ihre Innereien, als wollten sie sie zerreißen. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Der Schmerz erstickte alles. Sie vergaß sogar, was sie getan hatte, welchen Schaden sie angerichtet hatte, nicht nur jetzt, sondern im Laufe ihres Lebens. Ihre Eltern waren vorzeitig gealtert, so schockiert waren sie von ihrer Rücksichtslosigkeit als Teenager gewesen. Ihren ersten Mann hatte sie durch unablässiges Fremdgehen vernichtet, ihren zweiten durch das Verhalten, das sie ihm gegenüber an den Tag gelegt hatte, und dann waren da noch ihre Tochter und die wenigen Menschen, mit denen sie länger als nur ein paar Wochen befreundet gewesen war, und die Männer, die sie benutzt hatte, bevor sie sie benutzt hatten …
Die Männer. Vielleicht hatte das alles auch mit Vergeltung zu tun gehabt. Verletze sie, bevor sie dich
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