Sie sehen dich
drückte die rote Taste.
Zehn Minuten vergingen. Adam meldete sich nicht. Mike rief noch einmal an und presste eine weitere Nachricht durch zusammengebissene Zähne.
Jill sagte: »Dad?«
»Ja, meine Kleine?«
»Wo ist Adam?«
»Er kommt bestimmt gleich nach Haus. Pass auf, ich bring dich eben zu Yasmin, dann komm ich zurück und hol deinen Bruder ab, okay?«
Mike rief Adam ein drittes Mal an und sprach auf die Mailbox, dass er gleich wieder zurückkommen würde. Er dachte an das letzte
Mal, als er mehrere Nachrichten hintereinander auf Adams Mailbox hinterlassen hatte – damals war Adam ausgerissen, und sie hatten zwei Tage lang nichts von ihm gehört. Mike und Tia waren fast durchgedreht. Im Nachhinein war nichts passiert.
Wehe, wenn er diese Nummer noch mal abzieht, dachte Mike. Und im gleichen Moment dachte er: Gott, ich hoffe nur, dass er diese Nummer noch mal abzieht.
Mike nahm einen Zettel, kritzelte etwas drauf und legte ihn auf den Küchentisch.
ADAM,
ICH SETZ JILL AB. MACH DICH FERTIG, ICH BIN GLEICH ZURÜCK.
Auf Jills Rucksack klebte ein Rangers-Emblem. Sie interessierte sich zwar nicht besonders für Eishockey, der Rucksack hatte aber früher Adam gehört, und Jill verehrte Adam und seine abgelegten Sachen. Seit Kurzem trug sie auch eine ihr viel zu große grüne Windjacke aus der Zeit, als Adam noch in der Kinderliga gespielt hatte. Rechts auf der Brust war Adams Name eingestickt.
»Dad?«
»Was ist, mein Schatz?«
»Ich mach mir Sorgen wegen Adam.«
Sie sagte es nicht wie ein kleines Mädchen, das sich erwachsen gab, sondern wie eine Jugendliche, die für ihr Alter schon über viel zu viel Bescheid wusste.
»Wie kommst du darauf?«
Sie zuckte die Achseln.
»Hat er dir irgendwas gesagt?«
»Nein.«
Mike bog in die Straße ein, in der Yasmin wohnte, und hoffte, dass Jill noch mehr dazu sagen würde. Das tat sie aber nicht.
Früher, als Mike noch ein Kind war, hatten seine Eltern ihn einfach abgesetzt und waren weitergefahren, manchmal hatten
sie vielleicht noch kurz gewartet bis die Haustür geöffnet wurde. Heutzutage begleiteten die Eltern ihren Nachwuchs bis zur Tür. Mike fand das normalerweise übertrieben, aber wenn Jill irgendwo übernachtete, besonders da sie noch so jung war, sah er gern kurz nach dem Rechten. Er klopfte, und Guy Novak, Yasmins Vater, öffnete die Tür.
»Hey, Mike.«
»Hey, Guy.«
Guy trug noch den Anzug von der Arbeit, hatte nur die Krawatte abgenommen. Dazu trug er eine etwas zu auffällige, modische Schildpattbrille und die Haare aufwendig verstrubbelt. Guy war einer der vielen Väter im Ort, die an der Wall Street arbeiteten, und Mike verstand auch beim besten Willen nicht richtig, was genau sie da eigentlich machten. Es ging um Hedgefonds, Treuhandkonten, Kreditabteilungen und Börsengänge. Manche arbeiteten auf dem Parkett, verkauften Versicherungen oder Wertpapiere – für Mike war das Ganze nur ein riesiges, undurchsichtiges Finanzknäuel.
Guy war schon seit Jahren geschieden, und Mike hatte den etwas chaotischen Erzählungen seiner elfjährigen Tochter entnommen, dass er sich oft mit Frauen verabredete.
»Seine Freundinnen knutschen ihn immer ab bis Yasmin auftaucht«, hatte Jill ihm erzählt. »Ist irgendwie witzig.«
Jill schob sich an ihnen vorbei. »Bye, Dad.«
»Tschüss, Kleine.«
Mike wartete, bis sie im Haus verschwunden war, dann wandte er sich an Guy Novak. So sexistisch das auch sein mochte – er ließ seine Tochter lieber bei einer alleinerziehenden Mutter. Der Gedanke, dass seine vorpubertäre Tochter die Nacht im Haus eines alleinstehenden erwachsenen Mannes verbrachte, behagte ihm nicht. Wobei das eigentlich keine Rolle spielen sollte. Wenn Tia nicht zu Haus war, kümmerte Mike sich auch manchmal um die Mädchen. Trotzdem …
Die Männer standen sich gegenüber. Dann brach Mike das Schweigen.
»Und?«, fragte Mike, »was haben Sie mit den beiden geplant?«
»Wahrscheinlich gehen wir ins Kino«, sagte Guy. »Vielleicht aber auch bei Baumgart’s Eis essen. Ich, äh, ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass meine Freundin heute Abend noch vorbeikommt. Sie geht auch mit.«
»Kein Problem«, sagte Mike und dachte: Besser so.
Guy sah sich um. Er zog die Tür hinter sich zu, sah zur Straße und steckte die Hände in die Hosentaschen. Mike musterte sein Profil.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Mike.
»Jill war in letzter Zeit wirklich toll«, sagte Guy leise.
Mike wusste nicht, was er darauf sagen
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