Sie und Er
verstärkt jedes kleine Signal, regt Gedanken an, die vorauseilen und zurückkehren.
Kurz vor der französischen Grenze berührt er sie am rechten Arm, deutet auf das Schild einer Raststätte, schreit: »Sollen wir mal anhalten?«
Sie wäre vermutlich lieber weitergefahren, denn sie schaltet den Blinker ein, als täte sie es nur seinetwegen. Sie biegt in eine Parklücke ein, bremst abrupt.
In der nach stundenlangem Brausen plötzlich stillstehenden Luft steigen beide aus. Sie gehen über den Platz: sie vorneweg mit langen, leicht wiegenden Schritten, ohne sich umzusehen, ob er nachkommt.
Die Raststätte ist voller Leute, die aus dem Urlaub zurückkommen oder gerade erst losfahren, bei Dunkelheit, um die schlimmste Hitze zu vermeiden. Sie und er stellen sich an der Kasse an, um zweimal belegte Focaccia und zwei Bier zu ordern, dann stehen sie noch einmal Schlange, um die Sachen an der Theke zu holen. Sie warten Seite an Seite, verbunden durch das Neonlicht und den Mangel an Vertrautheit; als sie sich im Spiegel hinter dem Tresen sehen, haben sie beide eine ähnliche Ausstrahlung, etwas leicht Verwegenes.
Als der Barmann ihnen endlich die Focaccia und die Biere aushändigt, gehen sie damit an ein hohes Tischchen voller gebrauchter Servietten, Pappteller und Plastikbecher. Sie essen und trinken und schauen sich um, folgen mit den Augen Familien, Paaren und Gruppen von Reisenden, die sich an der Kasse oder vor dem Tresen drängen oder mit Essen beschäftigt sind oder zwischen den mit Lebensmitteln und anderen Produkten beladenen Regalen herumschlurfen.
An einem bestimmten Punkt deutet er auf einen Typen Ende dreißig mit kurzen weiten Hosen, einem T-Shirt mit einem dummen Spruch, kahlrasiertem, glänzendem rundem Kopf und Gummisandalen an den Füßen. Neben ihm seine unter der Hitze und der Reise leidende Frau mit hochgesteckten Haaren und einem hübschen haselnussbraunen kurzen Kleid, an der Hand ein Kind, das genauso angezogen ist wie der Vater. Halblaut sagt Deserti zu Clare: »Ist es nicht trostlos, diese Sache mit den Männern, die sich anziehen wie kleine Kinder?«
»Ziemlich.« Sie lacht.
»Aber es ist ein Symptom«, sagt er.
»Für die Regression der Männer?«, sagt sie.
»Mhm«, macht er. »Es zeigt den völligen Verzicht auf jeglichen Anspruch, sich weiterzuentwickeln.«
»Schon«, sagt sie. »Aber es ist Sommer und sehr heiß.«
»Hör zu«, sagt er. »Als ich klein war, träumte ich nur davon, dass endlich der Tag käme, an dem ich die kurzen Hosen für immer loswürde. Sie waren ein demütigendes Symbol für Unreife, für Unmündigkeit.«
»Unmündigkeit?«, wiederholt sie, als zweifelte sie an der Bedeutung des Wortes.
»Die Unmöglichkeit, selbst zu wählen und über das eigene Leben zu entscheiden«, sagt er. »Der Familie, der Schule, der Welt der Erwachsenen und ihren Regeln hörig zu sein. Kurze Hosen zu tragen war so, als trüge man ein Schild um den Hals: Ich zähle nichts, ich weiß nichts, ich tue nur, was man mir sagt.«
»Hm!« In ihren Augen glitzern rasche Reflexe, verspiegelte Gedanken.
»So war das«, sagt er. »Der Übergang zur langen Hose bedeutete den Eintritt in einen Bereich, in dem du zwar immer noch ein Gefangener warst, aber doch hoffen konntest, deine Autonomie zu erweitern, etwas zu erfinden, Fähigkeiten zu entdecken, dich zu verlieben, dazuzulernen, zu wachsen. Als ich endlich lange Hosen anziehen durfte, wäre ich nie freiwillig zu den kurzen zurückgekehrt.«
»Wie alt warst du da?«, fragt sie.
»Zwölf, glaube ich«, antwortet er.
»Und warum ziehen die erwachsenen Männer jetzt wieder kurze Hosen an?«, sagt sie.
»Weil sie gar keine Lust mehr haben, erwachsen zu werden«, sagt er. »Oder dazuzulernen. Im Gegenteil, sie bestehen auf ihrem Recht, unreif zu bleiben. Und natürlich reden wir hier nicht von der freien, kontemplativen, unverdorbenen Seite des Kindseins. Wir reden von der alles verschlingenden Egozentrik, von den Gefühlsausbrüchen, der Ungezogenheit, der Dummheit, der Faulheit, der Feigheit, der Inkonsequenz, der Haltlosigkeit, der Unersättlichkeit, der Unfähigkeit, Verantwortung zu übernehmen.«
»Aber woher kommt das denn, deiner Meinung nach?« Ihre Aufmerksamkeit ist jetzt ebenso ungeteilt, tief und leuchtend wie bei ihrem Gespräch in der Kneipe am Meer.
»Weil es mit der Welt bergab geht«, sagt er. »Weil die Verhaltensregeln, zu denen wir im Lauf der Jahrhunderte gefunden hatten, heute veraltet und unbrauchbar sind und sich
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