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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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Leben aufgetaucht ist, von dem sie nichts weiß, oder weil er etwas Besseres zu tun hat, weil er die Verabredung vergessen hat, zu der er sie so wortkarg genötigt hat, weil er das Spiel als abgeschlossen betrachtet, das ihn eine Weile amüsiert hat und jetzt plötzlich kaltlässt. Die Vorstellung nimmt ihr den Atem, ihr steht schier das Herz still, aber gleichzeitig wäre sie erleichtert, wenn ihre Gefühle wieder die von vor dem Autounfall im Regen wären. Sie ist hin- und hergerissen zwischen Erwartung und Flucht, Begehren und Angst, Traum und Wirklichkeit, Unrast und Vernunft.
    Dann auf einmal hört sie direkt unter ihrem Fenster ein Motorengeräusch, ein kurzes leises Hupen. Ihr Herz zuckt zusammen, vor Schreck saust sie von einer Ecke des Zimmers zur anderen. Sie zieht den Rollladen etwas höher, schaut hinunter: Daniel Deserti sitzt bei offenem Verdeck am Steuer seines alten grünen Jaguar, mit dem er den Unfall hatte. Sobald er sie sieht, winkt er, lächelt, steigt aus. Die Motorhaube scheint repariert zu sein, jedenfalls von hier aus gesehen.
    »Ich komme«, sagt sie zaghaft und schließt das Fenster. Sie fühlt sich wie eine Kriminelle, die ein grausames und noch dazu grundloses Verbrechen begeht; wie ein armes Opfer; sie ist so aufgewühlt, dass ihr alles aus der Hand rutscht, als sie versucht, die auf dem Bett ausgebreiteten T-Shirts und den Rock zusammenzurollen. Sie läuft ins Bad, um ihre Zahnbürste samt Zahnpasta zu holen, kommt zurück und stopft alles hastig in den kleinen Rucksack.
    Als sie den Reißverschluss zuzieht, tritt Matilde auf den Flur: »Was machst du?«
    »Ich fahre weg«, sagt sie, ohne den Blick zu heben. Die Vorstellung, einen Augenzeugen ihres Verbrechens zu haben, lässt ihr Blut stocken und erhöht aus irgendeinem seltsamen Grund ihre Entschlossenheit.
    »Das sehe ich«, sagt Matilde, halb inquisitorisch, halb komplizenhaft. »Mit dem Typen da unten im Jaguar?«
    »Ja.« Am liebsten würde sie es abstreiten.
    »Und Stefano?« Matilde hat Stefano höchstens drei-, viermal gesehen, sympathisch waren sich die beiden nie; die Frage kommt ihr automatisch, es geht ihr ein Stück weit um die Wahrung des Status quo.
    »Stefano arbeitet.« Clare schultert ihren kleinen Rucksack, bereit, Matilde beiseitezuschieben, sich mit Gewalt einen Weg durch den Flur zu bahnen.
    »Nur um Bescheid zu wissen.« Matildes Ton ist schon viel neutraler.
    »Jetzt weißt du Bescheid«, antwortet Clare immer ungeduldiger.
    »Kein Problem.« Matilde kratzt sich am Bauchnabel, den ihr T-Shirt freilässt.
    Und ob es ein Problem ist, denkt Clare, ein schier unlösbares sogar, so oder so. Sie nickt kurz zum Gruß, tritt auf den Flur; eine Sekunde später ist sie schon durch die Wohnungstür, saust die Treppe hinunter.
    Draußen steht Daniel Deserti auf dem Gehsteig, in dem Licht, das nun milder, aber immer noch stark ist: weißes Hemd, dunkler, warmer Blick, der sie stolpern lässt, als er dem ihren begegnet. Sobald er sie aus der Haustür kommen sieht, lächelt er: »Hey.«
    »Hey.« Sie schaut ihn kaum an, denn sie wird auch so nicht herausfinden, mit wem sie da eigentlich wegfährt. Sie ist so aufgeregt wie noch selten in ihrem Leben, das Herz schlägt ihr bis zum Hals. Vielleicht könnte sie noch eine Ausrede erfinden, denkt sie, zu Stefanos Wohnung laufen, unten auf der Straße auf ihn warten, falls er noch im Büro ist, ihm erzählen, dass sie an der ersten Station wieder ausgestiegen ist, weil sie gemerkt hat, dass sie den Abend unbedingt mit ihm verbringen will, und ihm sagen, dass sie es sich noch einmal überlegt hat mit den Möbeln, dass die Sachen, die sie gesehen haben, völlig in Ordnung sind und er sie ruhig bestellen soll.
    »Gib her.« Daniel Deserti versucht ihr den Rucksack abzunehmen.
    »Donnerstagabend um sieben muss ich zurück sein.« Sie hält den Rucksack am Riemen fest, als enthielte er den Teil ihres Lebens, den sie kennt, dem sie vertraut und von dem sie sich nicht trennen will.
    »Auf jeden Fall«, sagt er. »Ich habe es dir doch versprochen.« Er streckt die Hand aus, schafft es, sich den Rucksack geben zu lassen, und verstaut ihn im Kofferraum. Sie sehen sich an, jeder an einem Ende des alten Jaguar, der aus der Nähe gesehen doch nicht so gut wiederhergerichtet zu sein scheint. Daniel Deserti zeigt auf den Platz am Steuer.
    »Was?« Sie fühlt sich den Ereignissen ausgeliefert, hilflos.
    Er zuckt die Achseln: »Fahr du«, sagt er. »Dann musst du nicht befürchten, dass sie uns

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