Sie und Er
Chips-Packungen, Salamis, Weinflaschen, Rasierschaum und AutoZeitschriften häufen. Auf einem Bord sind ein paar Spielzeugschweine und -ziegen ausgestellt, die ununterbrochen grunzen und blöken und sich um sich selbst drehen wie in einem mechanischen Todeskampf.
Sie und er bleiben stehen, betrachten die Tiere mit der gleichen Mischung aus Neugier und Entsetzen, stoßen im Gedränge der Reisenden aneinander. Dann legt ihr er unvermittelt die Hand auf die Schulter und küsst sie auf den Mund. Es dauert nur eine Sekunde, dann schauen sie sich an, in der Schwebe zwischen einer nochmaligen Annäherung und einem Rückzieher. Flüssiges Licht spiegelt sich in der Iris ihrer Augen; manche der Vorübergehenden drehen den Kopf, hinterlassen Blickspuren.
Immer noch ohne zu überlegen, sagt er: »Du hast mir gefehlt.« Er weiß nicht, wie ihm das einfällt und was das zu bedeuten hat.
Sie legt den Kopf leicht schief, ganz durcheinander.
Er betrachtet ihre Augen, ihre Lippen. »Wirklich«, sagt er, in dem Bewusstsein, die Gefahr noch zu erhöhen, ohne jede Rückendeckung.
Sie wirkt immer noch verstört, von dem Kuss, von seinen Worten, davon, dass sie in diesem Moment zusammen hier sind.
Er fühlt, dass seine beiden Hauptströmungen hartnäckig miteinander im Widerstreit liegen: Sehnsucht nach Nähe und Bedürfnis nach Abstand, Ungeduld und Vorsicht. Keiner von beiden gelingt es, die Oberhand zu gewinnen; nichts zu machen. Als ihm nur noch ein winziger Spielraum bleibt, um nicht in eine unhaltbare Lage zu geraten, sagt er: »Das ist das erste Mal, dass ich in einer Raststätte jemanden küsse.«
»Für mich auch«, sagt sie.
Er wendet sich um, stößt die Glastüre auf, tritt auf den Parkplatz hinaus in die sich kreuzenden Lichtbündel, den Fahrtwind, das Dröhnen der Lastwagen und Autos, die aus Frankreich kommen oder dorthin unterwegs sind.
Gegen Mitternacht verlassen sie die Autobahn
Gegen Mitternacht verlassen sie die Autobahn, er lotst sie auf eine kurvige Staatsstraße, die durch eine Gegend mit Weinbergen und Pinienwäldern führt. Es ist dunkel, duftet nach Harz und Früchten, feuchte und trockene Strecken wechseln ab, aufgelockerter Boden und Felsen, die die während des Tages aufgenommene Hitze abstrahlen, kleine Wildbäche, Röhricht, vertrocknetes Gras. Am Himmel hinter ihnen ist der Mond aufgegangen, noch fast voll, groß, weiß, besorgniserregend.
»Bieg hier ab«, sagt er an einem bestimmten Punkt. Seine Stimme dringt an ihr rechtes Ohr wie eine Niedrigfrequenz, unter dem Motorengeräusch, unter dem Wind, der schwächer wird, als sie bremst.
Sie fahren um einen Kreisverkehr, dann an den alten Gemäuern eines Dorfes entlang: Straßenlaternen erhellen die Fassaden der Häuser, durch die Fenster sieht man gelb erleuchtete Innenräume, den bläulichen Schimmer laufender Fernseher. Sie schauen durch das offene Verdeck nach oben, Clare fährt immer langsamer.
»Halt an, wenn es irgendwo möglich ist.« Seine Hand streift ihren Arm. Sie parkt auf einem freien Platz neben der grauen Steinmauer einer Kirche: Der Motorenlärm und alle quietschenden und knackenden Nebengeräusche, die sie bis jetzt umhüllt und geschützt haben, verstummen schlagartig. Wie Schiffbrüchige steigen sie aus, plötzlich ohne Deckung, ausgespuckt aus dem Fluss der ständigen Bewegung, mit den Füßen auf dem Boden der Wirklichkeit dieses Landes, dieser Lichter, dieser Gerüche, dieser Töne. Die Dichte und Wärme der Luft genügen nicht, um den Leerraum zu füllen, jede Bewegung bleibt isoliert.
Clare schaut sich in der leicht abschüssigen Straße um: das Schaufenster eines Antiquitätengeschäfts mit einem Gitter davor, das Schild eines Beerdigungsinstituts, die Fassaden der Häuser aus dem achtzehnten oder neunzehnten Jahrhundert, einige grau und rissig, andere frisch und sauber restauriert. Sie wartet darauf, dass er etwas sagt oder tut, aber er steht da, die Hände in den Hosentaschen, wahrscheinlich damit beschäftigt, die jüngsten Veränderungen an den Einzelheiten zu registrieren, die er kennt. Sie beugt sich vor und nimmt ihre Handtasche vom Rücksitz; gleich darauf denkt sie, dass es ein Fehler war, möchte sie am liebsten zurücklegen.
Endlich rührt er sich: Er holt den kleinen kanadischen Rucksack aus dem Kofferraum, reicht ihn ihr, nimmt einen stark abgewetzten Ledersack und wirft ihn sich über die Schulter, überquert die Straße. Er wartet nicht auf sie, dreht sich nicht um, um sie zu küssen, legt ihr
Weitere Kostenlose Bücher