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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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aufgelöst haben. Im ersten Augenblick schien das eine Befreiung, doch anstelle der alten Regeln sind wir keineswegs zur edlen und reinen Natürlichkeit der Wilden zurückgekehrt. Wir sind in die abstoßende Barbarei zurückgefallen, aus der sich unsere Vorfahren mit großer Mühe zu erheben versucht hatten. Wir leben nicht zwischen Bäumen und Flüssen, sondern auf einem Trümmerhaufen.«
    Sie nickt nachdenklich, ganz einverstanden wirkt sie nicht: Sie ist keine Frau, der man fertige Theorien auftischen kann in der Meinung, dass sie sie unbesehen schluckt.
    »Es ist so«, sagt er. »Außerdem gibt es noch die großen wirtschaftlichen und politischen Kräfte, die Millionen von urteilsunfähigen Konsumenten und Wählern brauchen, denen sie jede Art von Müll verkaufen können, zum Essen, zum Trinken, zum Anziehen, zum Fahren, zum Hören, zum Anschauen und zum Glauben.«
    »Es ist auch einfacher«, sagt sie. »Nichts zu lernen, nichts auszuprobieren, sich nicht zu entwickeln.«
    »Ja«, sagt er. »Und du kannst dein mieses Verhalten immer als cool hinstellen. Dich als eine Art Künstler betrachten, nicht wahr? Dabei sind Ungezogenheit und Dummheit und Anstößigkeit durch die Bank die Regel, angefangen bei den Regierungschefs über die Gerichtsvorsitzenden bis hin zum kleinsten Polizisten und Fernsehmoderator.«
    Sie nickt, trinkt einen Schluck Bier.
    »Solche Männer habt ihr jetzt am Hals«, sagt er. »Sie reden wie Kinder, kleiden sich wie Kinder, sind von sich eingenommen wie Kinder, wollen immer neues Spielzeug wie Kinder, bohren in der Nase und kratzen sich an den Eiern und essen und trinken und rülpsen und furzen wie Kinder, aber gleichzeitig konsumieren sie Rohstoffe wie Erwachsene, wollen Sex haben wie Erwachsene, müssen sich rasieren wie Erwachsene, haben eine Glatze wie Erwachsene, wiegen so viel wie Erwachsene, sind arrogant und gefährlich wie Erwachsene und zerstören die Umwelt wie Erwachsene.«
    Sie lacht.
    »Findet ihr das gut?«, sagt er. »Ist euch das recht?«
    »Im Allgemeinen?« Sie schüttelt den Kopf. »Nicht besonders.«
    »Aber denkt ihr darüber nach?«, sagt er. »Redet ihr darüber? Unter Frauen?«
    »Über die kurzen Hosen, ehrlich gesagt, nicht.« Sie lacht erneut. »Über den Rest schon, wenn auch vielleicht nicht so unversöhnlich.« Möglicherweise denkt sie an ihren Mailänder Anwalt, an den singenden Hampelmann, der ihr bei den Felsen eine Szene gemacht hat. Warum stört es ihn, fragt er sich, dass diese Männer zu ihrem Leben gehören; ist er eifersüchtig? Er weist die Idee weit von sich, nein, das wäre ja absurd.
    »Jedenfalls glaube ich, dass es sich um eine Mutation handelt, die sich nicht mehr rückgängig machen lässt«, sagt er. »Unabhängig vom Alter ergreift sie alle, in wachsendem Tempo. Auch die, die sich etwas weiterentwickelt hatten, wollen plötzlich ebenfalls kurze Hosen und T-Shirts mit dummen Sprüchen.«
    »Nicht, dass die Frauen so viel besser wären.« Mit dem Kinn deutet sie auf eine junge Frau am Tresen, gekleidet und geschminkt wie ein Fernseh-Showgirl, stark gebleichte Haare, gebräunte Haut, im tiefen Ausschnitt hochgepushter Busen, fast bis zur Leiste zur Schau gestellte Schenkel, schwindelerregende Plateausohlen.
    »Sie bemühen sich, den männlichen Anforderungen zu entsprechen«, sagt er. »Das habt ihr doch schon immer gemacht, oder?«
    »Uns prostituiert?« Ihre Augen glitzern.
    »Euch angepasst.« Er lacht. Doch gleich darauf fühlt er sich geschwätzig, weltfremd, ein Snob. Immer wieder überrascht ihn das rasche, unabhängige Licht in ihrem Blick, genauso wie ihre Art, den alten Jaguar zu fahren, durch den kleinen Garten mit den Olivenbäumen in Ligurien zu gehen, mit ihren Freunden am Strand zu tanzen. Je länger er sie beobachtet, umso weniger hat er den Eindruck, dass er ihr etwas vorspielen und ungeschoren davonkommen kann, glaubhaft wirken und Applaus erhalten kann. Die Vorstellung beflügelt und verwirrt ihn in fast gleichem Maße: Er versucht sich zu erinnern, wann ihm das zum letzten Mal passiert ist, und es fällt ihm nicht ein. Plötzlich nerven ihn die vielen Leute in der Raststätte, der geschlossene, künstliche Raum voller fremder Blicke und Bewegungen und Geräusche. Er deutet auf den Ausgang: »Gehen wir?«
    Sie nickt, trinkt den letzten Schluck Bier aus, wirft das Plastikglas zusammen mit dem Pappteller in einen Abfallkorb, strebt schon dem Ausgang zu.
    Er folgt ihr auf dem vorgezeichneten Weg zwischen Regalen, in denen sich

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