Sie und Er
sei sie reichlich unbedarft gewesen, beeinflussbar, naiv und lächerlich.
Wenn ihr Vater hier wäre, denkt sie, würde er wahrscheinlich sagen, sie solle nicht über die begangenen Fehler jammern, sondern eine Lehre daraus ziehen und weitergehen. Allerdings scheint es ihr gerade, als gebe es kein Weiter, worauf sie zugehen könnte: Ihre Enttäuschung ist grenzenlos, sie erstreckt sich bis an den fernsten Rand dessen, was sie sich vorstellen kann. Außerdem hatte auch ihr Vater eine männliche Sicht auf die Welt: er, der Entdecker, Eroberer, Kämpfer. Stets damit beschäftigt, sich Techniken und Wissen anzueignen, Hypothesen und Theorien in die Praxis umzusetzen, Erfahrungen gewinnbringend zu nutzen, Grenzen zu testen, darüber hinauszugehen, zu drängen, zu provozieren, zu fordern. Er war der erste erwachsene Mann, den sie und ihre Schwestern als Vorbild vor Augen hatten, und seine häufige Abwesenheit, seine Aufmerksamkeit, die man sich erobern musste wie eine Belohnung und die sich von einem Augenblick zum anderen verflüchtigen konnte, seine körperliche Überlegenheit, sein gebieterisches Durchsetzungsvermögen haben sie gewiss geprägt. Die Schäden sind sichtbar: Bis heute übt alles, was sie schon in der Kindheit unglücklich machte, eine fatale Anziehungskraft auf sie aus. Hätte sie, wenn sie mit einem anderen männlichen Vorbild aufgewachsen wäre, Stefanos Stabilität schätzen können, anstatt sich davon eingeengt zu fühlen, fragt sie sich; hätte es sie zu vernünftigeren Entscheidungen geführt, anstatt sie zu verleiten, als Freigeist getarnten Egozentrikern auf den Leim zu gehen? Ihr Problem mit den Männern rührt sicher auch daher, dass sie immer davon ausging, es müsse irgendwo einen geben, der inniger, leidenschaftlicher, stärker, freier, ihrem Wesen noch näher wäre. Einen Spielgefährten, mit dem man auf und davon gehen könnte, einen Komplizen, mit dem man reden, sich lieben, tanzen und lachen könnte, ohne Filter oder Getue oder fixe Rolleneinteilung. Einen, der sie beschützte, ihr Sicherheit gäbe, aber auch in der Lage wäre, sie zu überraschen und zu unterhalten, ohne je dafür von ihr zu fordern, eine andere zu sein als sie selbst. Diese Vorstellung hegt sie seit ihrer Mädchenzeit und hat sich dadurch immer mehr zur Katastrophe als zur Geruhsamkeit, mehr zum Außenseitertum als zur Anpassung an den Stand der Dinge hingezogen gefühlt. Daniel Deserti mit seinem hochsensiblen Spürsinn eines Raubtiers muss das sofort aufgefallen sein, und daraufhin hat er ein Theater inszeniert, das ihren Erwartungen entsprach, aus Lust an der Verführung, aus Neugier, aus Langeweile oder zum Spiel, vielleicht sogar, um sie ein oder zwei Tage hintereinander glücklich zu machen. Je länger sie darüber nachdenkt, umso wütender wird sie, aber es ist gar kein befreiendes Gefühl: Es ist Wut auf sich selbst, die sie nicht weiterbringt, sondern zurückwirft; nie, denkt sie, wird es ihr gelingen, aus ihren Fehlern zu lernen und ihre Grenzen zu überwinden.
Sie geht hinüber zur Abteilung Bücher und Zeitungen, sieht aber keine Publikation, die sie reizt oder betrifft oder ihr irgendwie nützlich sein kann. Es gibt nur zu allgemeines oder zu spezifisches Geschwätz; es interessiert sie genauso wenig wie das Geplapper der anderen Passagiere, ihre Kleidung und ihre Accessoires, ausgewählt, weil sie praktisch oder chic sind, ihre Verhaltensweisen, allein oder in Gruppen oder als Paar, ihre kleinen Unmutsäußerungen, die Verkrampfung oder Entspannung ihrer Gesichter, ihr Zusammenhocken, ihre grundsätzliche Gleichgültigkeit, ihre Namen, die nur für sie selbst einen Sinn haben, ihre Worte, mit denen sie sich vertraute Strukturen bestätigen in dieser Übergangssituation, diesem Niemandsland.
Das Angebot an englischen Büchern ist beschränkt: ein paar Anleitungen zur Selbstverwirklichung, etliche Biographien von Schauspielern und Sängern, mehrere Thriller, Liebesgeschichten mit Zeichnungen oder Fotografien von dramatisch leidenschaftlichen Paaren auf dem Umschlag, einige Romane, die gerade verfilmt wurden, ein Hundebuch, die Geschichte einer Frau, der es gelungen ist, einem Papagei einhundertzweiunddreißig verschiedene Wörter beizubringen, welche dieser, ihrer Behauptung nach, mit menschlicher Intelligenz miteinander zu kombinieren verstand. Es gibt auch den Essay einer Psychologin der Harvard University, die erklärt, dass mindestens zehntausend Stunden nötig sind, um ein beliebiges Problem oder
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