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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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Überraschungen, die nicht kamen oder sich in Kürze verflüchtigten; als sei er unverzeihlich leichtfertig mit der Zeit umgegangen, habe eine sinnlose Menge Energie in Beziehungen und Situationen vergeudet, die ihn von Anfang an nicht überzeugten; als habe er Gewohnheiten und Verhaltensweisen gepflegt, die zu nichts führten; als habe er Bücher geschrieben, für die er keine echte Leidenschaft empfand. Und jetzt, wo sich durch ein Zusammenkommen der unwahrscheinlichsten Umstände alles hätte ändern können, befindet er sich im Wettlauf, für den er nicht gerüstet ist, keine Zeit und keinen Atem hat. Es ist wie gegen den Strom schwimmen; so viel Kraft er auch in seine Beine legt, ihm ist, als fiele er immer noch ein Stückchen hinter den Ausgangspunkt zurück. Er stellt sich weiterhin vor, plötzlich Clares Profil zu erkennen oder ihre Haare, ihre Art zu stehen oder zu sitzen, und immer noch sieht er sie nicht, nirgends: Sie ist nicht da.
    Er rennt durch die automatischen Glastüren ins Freie, springt in den alten Jaguar, rast im fahlen Licht der Straßenlaternen die endlose Allee entlang, gibt noch mehr Gas. Es ist einer seiner wiederkehrenden bösen Träume, dass er verzweifelt jemanden oder etwas verfolgt, wovon sein ganzes Leben abhängt, und es nicht schafft, ihn oder es zu erreichen, sosehr er sich auch bei der Verfolgung anstrengt. Seine Gedanken eilen voraus, überspringen ganze Blöcke und Kreuzungen, durchqueren Gebäude, verkürzen Straßen, zerren ihn vom Stadtrand ins Zentrum, lange bevor er tatsächlich dort ankommt.
    Dann steht er wirklich vor seinem Haus, schließt mit zitternden Händen die Eingangstür auf, läuft die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal, um nicht auf den Aufzug warten zu müssen. In der Wohnung ist es stickig und glühend heiß, dennoch scheint es ihm, als könnte er in der Küche einen kaum wahrnehmbaren Hauch von Clares feinem Blumenduft riechen. Daraufhin zieht er noch ungestümer die Schreibtischschublade heraus, kippt den Inhalt samt und sonders auf den Fußboden. Er wühlt in den verstreuten Gegenständen wie ein gehetzter Dieb, und als er seinen Pass findet, steckt er ihn in die Hosentasche; in wenigen Sätzen ist er wieder an der Tür, saust schon die Treppe hinunter.
    So schnell er kann, fährt er aus dem Straßengewirr um seine Wohnung heraus, nimmt die Ausfallstraßen Richtung Norden, die um diese Zeit zum Glück fast leer sind; er hofft nur, dass ihm niemand an einer Kreuzung den Weg abschneidet, weil er ziemlich sicher nicht bremsen kann. Der wilde Rhythmus in seinem Kopf ist schneller als sein Herzschlag und sein Atem. Er passiert die Mautstelle zur Autobahn nach Norden, tritt das Gaspedal durch und rast mit heulendem Motor durch die vom künstlichen Licht der Industriehallen und Raststätten fahle Dunkelheit. Wieder und wieder berechnet er, wie lange er bis zum Flughafen Malpensa braucht, ist aber nie ganz sicher und schaut alle paar Sekunden auf den Kilometerzähler. Die Luft fährt ihm in die Haare und über den Hals, füllt seine Ohren mit Lärm; das zurückgeklappte Verdeck knattert im Wind, sein flap flap flap mischt sich mit dem Rasseln und Quietschen und Singen der Blechteile. Er holt das Letzte aus dem Auto heraus, ein paarmal fliegt er fast aus der Kurve und kann im letzten Moment gegensteuern.
    Als er in Malpensa ankommt, ignoriert er die Hinweisschilder zum Parkplatz unten links, fährt die Rampe zum Abflugbereich hinauf, parkt den Jaguar im Halteverbot, rennt auf die Glastüren zu. Innen durchquert er Hallen mit absurd hohen Decken, und sofort erscheint ihm alles noch hoffnungsloser als in Linate: die Räume zu weitläufig, viel mehr tote Ecken und Schattenzonen, noch weniger Zeit. Er läuft herum, dreht sich nach rechts und nach links; ständig gewinnt und verliert sein Blick an Schärfe, sendet dem Gehirn unzuverlässige Botschaften.
    Sie ist nicht da, oder zumindest kann er sie nicht entdecken. Die Zeit verstreicht weiter, Sekunde für Sekunde; durch die riesigen Scheiben sieht man schwaches Tageslicht am Himmel heraufziehen. An einigen Check-ins tauchen Bodenstewardessen auf, schalten ihre Computer ein; bei einigen Ticketschaltern geht die Beleuchtung an. Er rennt noch immer hin und her, heftig widerstreitende Impulse im Herzen und im Kopf. Sie könnte sehr wohl ein Ticket für den nächsten Tag bekommen haben, denkt er, sie könnte ihr Ziel geändert und beschlossen haben, eine andere Schwester zu besuchen, sie könnte zu Stefano gegangen

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