Sie und Er
sein. Ständig flimmern Bilder vor seinem geistigen Auge vorbei, so rasch, dass er kein einziges anhalten kann, auch nicht für zwei Sekunden: Orte, Blicke, Bewegungen, Details einer Hand, eines Auges, eines Teils ihrer Haare, eines Fußes, eines Lächelns, eines erwartungsvollen Ausdrucks, eines traurigen Ausdrucks, einer Frage ohne Antwort.
Und es ist seltsam, denn trotz der Häufung von Signalen spürt er unglaublich deutlich, welch unwiederbringlicher Sinnverlust es für ihn wäre, wenn es ihm nicht gelänge, sie wiederzufinden. Es ist kein vager Eindruck, auch keine abstrakte Idee: Es ist eine so felsenfeste Gewissheit, dass sie ihn mit Schrecken erfüllt, sobald er sie in ihrer Gänze erfasst hat.
Als dann auch die Ticketschalter aufmachen, kauft er ein Ticket für den ersten Flug nach Vancouver, bei einer kleinen Brünetten, die mitten in der Nacht aufgestanden sein muss, aber trotzdem so sorgfältig geschminkt und gekämmt ist, als lebte sie außerhalb der Zeit und ihrer gnadenlosen Beschleunigung. Der Flug hat zwei Zwischenlandungen und dauert fast zwanzig Stunden, aber das ist ihm egal, ihn interessiert nur, sich wenigstens eine von wer weiß wie vielen Möglichkeiten zu sichern, Clare Moletto wiederzufinden, bevor es zu spät ist.
Er passiert die Kontrollen, zieht Schuhe, Gürtel und Uhr aus, mustert weiter angespannt die anderen Passagiere vor und hinter ihm, so dass die Polizisten misstrauisch werden.
Dann geht er vor dem Gate auf und ab, ohne eine einzige Person zu versäumen, die noch halb verschlafen dazukommt.
In Amsterdam sind es fast vier Stunden bis zum Weiterflug nach Calgary
In Amsterdam sind es fast vier Stunden bis zum Weiterflug nach Calgary, doch sie hat keine Veranlassung, in die Stadt zu fahren. Sie ist auch nicht müde, obwohl sie die ganze Nacht kein Auge zugetan hat, und sie hat weder Hunger noch Durst. Ihr ist nur kalt, aber es ist keine echte Kälte, scheint ihr, die von der Klimaanlage oder der Wetterveränderung herrührt; es ist eine innere Kälte, die sich auf keine Art vertreiben lässt.
Mit ihrem Rollenkoffer und dem Rucksack auf der Schulter geht sie zum Sektor für Interkontinentalflüge, betrachtet ohne das geringste Interesse die Duty-free-Geschäfte mit Koffern, Gürteln, Sonnenbrillen, Uhren, Spirituosen, Schokolade und Süßigkeiten in Geschenkpackungen, die Souvenirabteilung voller Minirucksäcke mit Hunde-, Katzen- oder Hasengesichtern, Delfter Porzellan, Holzpantinen, Miniaturwindmühlen. Ziellos und unbeteiligt passiert sie die Regale der Parfümabteilung, wo sich ihr mit aufgesetztem Lächeln eine Verkäuferin nähert und sie unversehens aus einem Kristallflakon mit einer kleinen Duftwolke besprüht.
Sie kauft eine kleine Flasche Mineralwasser, setzt sich in einer Bar an ein Tischchen und reibt sich mit einer wassergetränkten Papierserviette über Arm und Schulter, um den ekelhaften Geruch abzuwischen, der an ihr haften geblieben ist. Sie fragt sich, warum sie sich hat ansprühen lassen; wohl wieder ein Symptom für ihre Unfähigkeit, realistisch mit der Wirklichkeit umzugehen. Angeekelt schnuppert sie an sich und denkt, dass sie es nie gelernt hat, in der richtigen Weise und zur rechten Zeit auf die Lebensumstände zu reagieren. Ein Großteil ihrer Probleme geht auf Gegebenheiten ihrer Kindheit zurück, auf den Charakter ihres Vaters und ihrer Mutter, auf ihre katastrophale Interaktion. Dieses Bewusstsein hilft ihr allerdings kein bisschen; nicht mehr als ein Verkehrs- oder Ortsschild. Sie war nie bestrebt, sich perfekt den Spielregeln anzupassen, aber es wäre doch bequem gewesen, wenn ihr jemand von Anfang an erklärt hätte, wie die Regeln aussehen, anstatt so zu tun, als gäbe es keine.
Wahrscheinlich hat Daniel Deserti sie auch deshalb fasziniert, denkt sie: wegen seines sorglosen Umgangs mit Verpflichtungen und Konventionen, wegen seiner Fähigkeit, die eigenen Fehler, Zweifel und Mängel als Stoff für seine Arbeit zu verwenden und sie als künstlerische Verdienste angerechnet zu bekommen. Aber er ist ein Mann, ganz gleich, welche unversöhnlichen Betrachtungen er über seine Geschlechtsgenossen anstellen mag, und zwar letztendlich einer, der noch egoistischer und übergriffiger ist als der Durchschnitt. Um das zu übersehen, musste so ein Dummchen wie sie kommen, eine mit dem Kopf in den Wolken, die nicht mit beiden Beinen auf dem Boden steht, voller unangemessenem Elan, unbegründeten Überzeugungen, fehlgeleiteten Instinkten. Ihr ist, als
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