Sie und Er
jetzt empfindet sie die Leere noch schlimmer als damals, und nichts scheint den Fall aufzuhalten. Es ist die Kehrseite ihres wiederkehrenden Traums vom Fliegen: Die Luft rundherum bietet ihr nicht mehr den geringsten Halt.
Sie denkt an die wahrscheinlich über Jahre perfektionierten Eroberungsstrategien, die Daniel Deserti bei ihr angewandt hat; an das grausame Spiel von Gesten und Worten, mit denen Gefühle aufgespürt und ans Licht gezerrt werden, nur um sie zu enttäuschen und sich selbst zu überlassen. Sie kommt sich unglaublich dumm vor, dass sie darauf hereingefallen ist, und auch schuldig, dass sie ihrerseits Stefanos Gefühle verraten und ihn damit allein gelassen hat. Wie konnte sie bloß rückhaltlos einer solchen Täuschung Glauben schenken und gleichzeitig ein ganz reales Angebot ausschlagen, fragt sie sich, bloß um sich jetzt in dieser Doppelrolle des Henkers und des Opfers wiederzufinden, in der sie der Täuschung nachweint und das Angebot ablehnt. Ihr scheint, als habe sie alle Fehler gemacht, die sie nur machen konnte, mit einem Leichtsinn, der jeden ihrer früheren Versuche, etwas Gutes zustande zu bringen, weit übertrifft. Dennoch empfindet sie schon allein den Gedanken, zu Stefano zurückzukehren, als unerträglichen Rückschlag; es ist ein Gefühl von vergitterten Fenstern und Türen, verschlossenen Horizonten, verschwundenen Farben, ausgespielter Musik, abhandengekommenem Rhythmus, stockendem Blut. Es scheint, als gebe es kein Heilmittel, keine Kur. Sie fischt ihr abgeschaltetes Handy aus der Handtasche, mit all den neuen verpassten Anrufen und Nachrichten, die es vermutlich enthält, und wirft es in einen Abfalleimer. Dann schlendert sie mit ihrem orangefarbenen Koffer im Schlepptau und ihrem kleinen Rucksack auf der Schulter durch den schlafenden Flughafen und möchte nur noch eines: verschwinden.
Sie steigt die stehende Rolltreppe zur Ankunftshalle hinunter, wo es menschenleer ist, und betritt eine der Toiletten. Im Neonlicht betrachtet sie sich im Spiegel: blass, mit Ringen unter den Augen, wirren Haaren und der Bluse, die sie seit dem unendlich weit entfernten Morgen nicht gewechselt hat. Der beißende Geruch nach Desinfektionsmittel steigt ihr in die Nase, dass ihr die Augen tränen; es kommt ihr vor wie der chemische Beitrag zu ihrem abgrundtiefen Verlustgefühl, und plötzlich muss sie weinen und schluchzen, über das Waschbecken gebeugt.
Er stellt das Auto auf dem Parkplatz vor der Abflughalle ab und läuft hinein
Er stellt das Auto auf dem Parkplatz vor der Abflughalle ab und läuft hinein, seine Sohlen quietschen auf dem glatten Boden, im kalten Licht sondiert sein Blick die riesigen Säle von einem Ende zum anderen. Um diese Zeit steht fast alles still, aber der Raum ist keineswegs menschenleer: Manche Leute hängen schlaff in den Plastiksitzen, andere liegen oder stehen irgendwo, verschwimmen mit dem Boden, mit der Wandtäfelung. Er versucht sie einzeln zu mustern, während er schnell durch die künstlich erzeugte Kälte läuft, die seine Lunge, seinen Magen und seine Stirn gefrieren lässt. Zwei Carabinieri beobachten ihn, während er an einer schlafenden Bar mit ihren hohen Hockern vorbeigeht, an der Rolltreppe, die in die Ankunftshalle hinunterführt, an den geschlossenen Ticketschaltern, an den geschlossenen, parallelen Check-in-Reihen, an dem geschlossenen Zeitungsladen, an der geschlossenen Apotheke, an einer weiteren geschlossenen Bar.
Dabei denkt er dauernd, dass sie genauso gut in Malpensa sein könnte und nicht hier in Linate; dass die Zeit, die ihm noch bleibt, um von einem Flughafen zum anderen zu gelangen, sich Minute um Minute verkürzt. Im Geist stellt er Berechnungen an, während er unbekannte Körper und Gesichter registriert: Schon in einer Stunde öffnen die Check-in-Schalter für die ersten Flüge. Er kann es nicht glauben, dass er kein Mittel hat, um mit ihr in Kontakt zu treten, seit er sein Handy zu Hause auf dem Fußboden zertrümmert hat; er kann es nicht glauben, dass er ihre Nummer nicht auswendig gelernt oder aufgeschrieben hat, dass er sich so blindlings auf die Elektronik eines elenden Plastikkästchens verlassen hat. Die Angst kriecht in ihm hoch, er läuft im Zickzack, dreht den Kopf in zehn verschiedene Richtungen, tastet mit dem Blick jede Gestalt ab, besessen von dem Gedanken, er könne genau die übersehen, die er sucht.
Ihm scheint, als habe er einen großen Teil seines Lebens im Stand-by-Modus verbracht, im Warten auf
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