Sie und Er
Fähigkeit verloren, sie zu begeistern, sie auch nur zu verstehen; er empfindet sie als distanziert, zerstreut, unaufmerksam, beinahe feindselig.
Jetzt zum Beispiel sitzt Jenny vor dem Computer an seinem Schreibtisch, die kleinen nervösen Finger eilen rasch über die Tasten, vielleicht um ihren Freunden in England etwas mitzuteilen, die Nase fast am Bildschirm, um ja nicht gestört zu werden. Will dagegen lümmelt auf dem Sofa, gedämpfter Schlagzeugrhythmus dringt aus den Kopfhörern seines MP3-Players, die langen Beine sind ausgestreckt, die nackten Füße wippen auf der Lehne, im Vergleich zum Vorjahr sind sie um mindestens eine Nummer größer.
»Pa?«, sagt Jenny an einem bestimmten Punkt, ohne die Augen vom Bildschirm des PCs abzuwenden. »Weißt du, dass du zweitausenddreihundertsiebenundfünfzig Freunde hast?«
»Wie bitte?«, sagt er.
»Und es werden ständig mehr«, sagt Jenny.
»Wovon redest du?«, fragt er leicht beunruhigt.
»Auf Facebook«, sagt Jenny. »Deine page.«
»Meine was?« Er schaut ihr über die Schulter. Auf dem Bildschirm sieht er ein altes Foto von sich auf dem Motorrad, das von der Website stammt, die der Verlag für ihn eingerichtet hat, und unter der Überschrift Personen, die du vielleicht kennst folgen kleinere Fotos von gänzlich unbekannten Leuten mit gänzlich unbekannten Namen. »Siehst du?«, sagt Jenny.
»Wer zum Teufel ist das?« Er versucht, die kleinen Gesichter und die kurzen Texte zu entziffern.
»Deine Freunde«, sagt Jenny; seine Reaktion scheint sie zu amüsieren.
»Das sind nicht meine Freunde!«, sagt er. »Die habe ich noch nie im Leben gesehen!«
»Aber sie lesen deine Bücher!«, erwidert Jenny. »Es sind noch viel, viel mehr, schau mal.« Sie klickt auf Freunde: Dutzende neue Gesichter erscheinen, ebenso unbekannt.
»Wie sind die denn da reingekommen?«, fragt er, immer aufgeregter. »Und warum?«
»Sie wollen dir was sagen«, sagt Jenny.
»Was sagen?«, wiederholt er. »Ja, was denn?«
»Dich grüßen, zum Beispiel«, sagt Jenny. »Oder Fragen stellen. Schau hier.« Sie klickt irgendwo, weitere kleine Fotos erscheinen, daneben eine schier endlose Reihe von Sätzen wie: DD, ich liebe dich, du lässt mein Herz höher schlagen, oder: Notizen aus dem Nichts ist jdfls eine herbe Enttäuschung im vgl zu dem Hasen, oder: Der Blick ist der schönste Roman, den ich überhaupt je gelesen habe, italienisch oder ausländisch, habe mich so mit der weiblichen Hauptperson identifiziert, dass ich am Schluss geweint habe wie ein Kind, oder: Ist die Figur von Erica autobiographisch im Sinn von: dass es eine Frau ist, mit der du wirklich zusammen warst?, oder: Weiß jemand, ob bald was Neues aus dem Hause Deserti zu erwarten ist, weiß jemand schon den Titel, ev. Erscheinungsdatum?
»Ich habe aber keine Lust, auf irgendwelche Fragen zu antworten!«, sagt Daniel Deserti lauter. »Noch dazu von total fremden Leuten!«
»Sie sind nicht total fremd, Pa.« Will taucht aus seinem Schwebezustand auf und nimmt die Kopfhörer ab. »Sie haben einen Namen und ein Gesicht, sie sind akzeptiert worden.«
»Akzeptiert? Von wem?«, schreit er. »Von mir bestimmt nicht!«
»Es ist eine Fanpage«, sagt Jenny, als spräche sie von einer Tatsache ohne Nebenwirkungen.
»Ich habe nie eine Fanpage autorisiert!«, schreit er.
»Eine Fanpage muss nicht autorisiert werden.« Wills geduldiger Tonfall versetzt seinen Vater noch mehr in Rage. »Irgendwer richtet sie ein und basta.«
»Aber nicht gegen meinen Willen!«, schreit er, während er mit Abscheu auf die kleinen Gesichter und die Kommentare blickt, die immer weiter, von Jennys schmalen Fingern befördert, über den Bildschirm flimmern. »Ohne mich zu fragen!«
»Du hättest abgelehnt«, sagt Jenny, die Stimme der Vernunft der elektronischen Gemeinde.
»Das ist eine Verletzung der Privatsphäre!«, schreit er. »Ein unerträglicher Übergriff!«
»Es geht nicht, dass du kein Profil bei Facebook hast, Pa«, sagt Will vom Sofa her.
»Wer hat gesagt, dass das nicht geht?«, schreit er. »Wer sagt das?! Ich denke nicht daran, Leute in mein Leben eindringen zu lassen, von denen ich nichts weiß und die mir völlig egal sind!«
»Aber du kannst ja was über ihr Leben erfahren! Schau her!« Jenny klickt auf eines der kleinen Fotos, öffnet eine ähnliche Seite wie die vorige, nur dass links Foto und Name einer kleinen Brünetten erscheinen, einer gewissen Samantha Ramuglio. Noch ein Klick, und man sieht Fotos von Samantha Ramuglio im
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