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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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Deserti. »Was ist aus euch geworden?«
    Will und Jenny würdigen ihn keines Blickes mehr, sie kehren zu ihren vorherigen Beschäftigungen zurück. Nur die Klimaanlage brummt leise.
    Er geht in die Küche, gießt sich drei Finger hoch Wodka ein, kippt ihn auf einen Zug hinunter. Er denkt, dass er in diesen Tagen ganz andere Sachen hätte tun können, wenn er geahnt hätte, was auf ihn zukommt. Es wäre auch viel einfacher gewesen, er hätte nicht mit seiner Exfrau lang und breit über die Einzelheiten verhandeln müssen, hätte keine Flüge buchen, die Wohnung nicht irgendwie herrichten, die Arbeit nicht unterbrechen, keine Termine absagen und Anfragen hinausschieben müssen.
    »Hast du Mehl?« Jenny steht mit verkniffenem Gesicht in der Tür.
    »Wozu brauchst du das?« Er öffnet den Kühlschrank, gießt sich noch etwas Wodka ein.
    »Dad«, sagt Jenny. »Um diese Zeit?«
    »Fuhr dich jetzt nicht auf wie deine Mutter!«, sagt er und knallt die Flasche auf das Spülbecken, bereut es aber sofort.
    »Was hat Mama damit zu tun!«, sagt Jenny, zum Glück unbeeindruckt.
    »Wozu brauchst du das Mehl?«, fragt er.
    »Ach, egal«, sagt Jenny, blickt zur Seite.
    Manchmal fragt er sich, ob er zu einem der beiden größere Nähe empfindet, zu Will, der die Augen und das Gesicht seiner Mutter hat, oder zu Jenny, die ihm ähnlich sieht - sie sind so unglaublich verschieden in Charakter und Aussehen. Und jedes Mal kommt er zu dem Schluss, nein, man kann sie nicht vergleichen, und beide können ihm das Herz auf gleiche Weise brechen.
    »Verzeih mir, okay?«, sagt er jetzt, das Wodkaglas in der Hand, betroffen bei dem Gedanken, dass seine Kinder wahrscheinlich die einzigen Menschen auf der Welt sind, denen gegenüber er bereit ist, sich zu entschuldigen, jedenfalls wenn er weiß, dass er im Unrecht ist. »Auch wegen vorhin. Dass ich dich angeschrien und weggeschubst habe.«
    »Ich verzeihe dir nur, wenn du das wegschüttest.« Mit dem Kinn deutet Jenny auf den Wodka im Glas.
    »Du kannst dir nicht vorstellen, was für ein Alptraum diese Geschichte für mich ist«, sagt er. »Ein Heer von Unbekannten in meinem Privatleben.«
    Jenny zeigt mit dem Finger auf das Glas, sie hat nicht die Absicht, sich ablenken zu lassen.
    Er leert den Wodka demonstrativ von weit oben in den Ausguss. »Zufrieden?«
    Sie nickt: ernst, taff, bei näherem Hinsehen schon fast erwachsen.
    »Nicht zu fassen, da habe ich also eine Tochter, die kontrolliert, was ich trinke«, sagt er. »Aber dass sie mich im Internet bei lebendigem Leib auffressen, das findet sie normal.«
    Jenny steckt die Hände in die Taschen ihres kurzen Jeansrocks und antwortet nicht.
    »Sag mir, was du mit dem Mehl machen willst«, sagt er. »Sonst schenke ich mir sofort ein neues Glas ein.«
    »Einen Kuchen.« Jenny hat schon immer leidenschaftlich gern gebacken. Schon als sie noch zusammen in England lebten, sprang sie oft sonntags um sechs Uhr früh aus dem Bett, um einen Kuchen zuzubereiten und in den Ofen zu schieben, bevor der Rest der Familie zum Frühstück herunterkam; dann schnitt sie ihn am Tisch auf und beobachtete ihre Reaktionen beim ersten Bissen.
    »Was für einen Kuchen?«, fragt Will, an den Türrahmen gelehnt. »Mürbeteig, Blätterteig, Biskuit, superluftiger Hefeteig?«
    »Weiß ich noch nicht«, antwortet Jenny.
    »Du hast beschlossen, einen Kuchen zu backen, und weißt noch nicht, was für einen?«, sagt Will.
    »Noch nicht«, sagt Jenny. Vielleicht streiten sie nur selten, weil sie so verschieden sind; oder vielleicht, weil sie zu viel Streit bei ihren Eltern miterlebt haben.
    Zu den Dingen, über die er nicht nachdenken mag, gehören die möglichen Auswirkungen, die der Krieg zwischen ihm und Sarah auf die beiden damals noch kleinen Kinder gehabt hat. Doch trotz seiner Abwehrhaltung gibt es immer wieder Splitter, die ihn mitten ins Gehirn treffen samt Begleitgeräuschen und entsprechenden Empfindungen. Zum Beispiel jener Heiligabend in Kingston: Er brüllt Gemeinheiten nach oben, Sarah kommt die Treppe herunter, ein Handtuch um den Kopf gewickelt, und keift zurück, gleichzeitig fällt der Weihnachtsbaum um, die Hälfte der bunten Glaskugeln zerbricht - und erst da bemerken sie beide, dass Jenny reglos in der Küche steht und mit Tränen in den Augen eine Serviette zwischen Daumen und Zeigefinger reibt. Diese Erinnerungen sind verheerend für ihn: Es gibt keinen passenderen Ausdruck dafür.
    »Das ist alles, was ich habe«, sagt er jetzt zu seiner Tochter und öffnet

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