Sie und Er
sagt Will achselzuckend. Dann hält er seine erzieherische Aufgabe offenbar für erfüllt, er schlurft wieder zum Sofa, setzt die Kopfhörer auf und schaltet seinen iPod ein.
Deserti dreht sich nach Jenny um und merkt, dass sie weinend am Fenster steht. »Hey«, sagt er. »Was ist los?«
Jenny antwortet nicht: Sie schluchzt lautlos, wie damals, vor der Scheidung, bei seinen schrecklichen Streitereien mit ihrer Mutter.
Er geht zu ihr, fasst sie an der Schulter, plötzlich tut ihm alles unendlich leid: »Wein doch jetzt nicht, bitte.«
Jenny rückt von ihm ab, läuft quer durchs Wohnzimmer: rasch und leichtfüßig - doch noch ein Kind.
Er folgt ihr auf den Flur, aber sie kommt schon zurück; sie stoßen mit den Schultern aneinander. »Warte«, sagt er, versucht vergeblich, sie aufzuhalten.
Jenny setzt sich wieder an den Computer, um sich selbst oder ihm etwas zu beweisen, oder vielleicht, weil sie in diesem Haus sonst nichts Interessantes zu tun findet.
Er widersteht der Versuchung, sich weiter um Kontaktaufnahme zu bemühen, nimmt wahllos ein Buch aus dem Regal und blättert aufgewühlt darin.
So verbringen sie etwa zwanzig Minuten, jeder scheinbar gefesselt von dem, was er tut, von den anderen getrennt. Die Luft ist schwül, die schwache Klimaanlage bewirkt so gut wie nichts, von der Straße dringen Motorengeräusche herauf, die ab und zu die Fensterscheiben zittern lassen.
Er springt in dem Essay eines Professors der Universität Budapest, der seine Bücher wissenschaftlich analysiert, zwischen den Kapiteln hin und her, und als er sich zu sehr ärgert, schleudert er es zu Boden. Aus einem Stoß noch nicht gelesener Sachen zieht er ein Etymologie-Lexikon hervor, blättert darin. Ab und zu wirft er einen Blick auf seine Kinder: Sie könnten sich natürlich einfach weiter anschweigen, denkt er, die Zeit verstreichen lassen, bis sie vorbei ist und die beiden nach England zurückmüssen. Stattdessen springt er auf, geht zu Will und macht ihm ein Zeichen, den iPod auszuschalten.
Unwillig setzt Will die Kopfhörer ab, sieht ihn an.
»Hör zu«, sagt er. »Picknick. Weißt du, woher das Wort kommt?« Bis vor kurzem begeisterte es sie alle drei, die Herkunft eines Ausdrucks oder einer Redewendung nachzuschlagen, in Wörterbüchern zu stöbern auf der Suche nach Synonymen und Gegensätzen, Verbindungen zwischen einer Sprache und der anderen herzustellen. Auch Jenny vergnügte sich stundenlang damit, ohne zu ermüden; schon immer hatte sie die Fähigkeit gehabt, ad hoc Anagramme zu erfinden, vorwärts und rückwärts lesbare Sätze zu entdecken, mit den Wörtern zu spielen. Er war glücklich bei dem Gedanken, dass sich seine Kinder auf so fröhliche Art die Mittel aneigneten, um Empfindungen auszudrücken, Zustände zu beschreiben, Abläufe zu rekonstruieren.
»Keine Ahnung«, sagt Will jetzt, ohne eine Spur von Interesse in den Augen.
»Vom Französischen pique nique«, liest er. »Was wörtlich bedeutet >nimm nichts<, weil jeder der Teilnehmer etwas zu essen mitbringt.«
Will nickt, damit sein Vater zufrieden ist und er zu seiner Musik und seinen Gedanken zurückkehren kann, worum auch immer die sich drehen mögen.
Deserti schlägt das Buch zu: »Wenn es dir egal ist, kannst du es gleich sagen! Dann spare ich mir die Energie!«
Will schließt halb die Augen: Seine Lider senken sich und heben sich wieder, als wollte er dieser unangenehmen Äußerung Zeit lassen zu verfliegen.
»Könnt ihr mir erklären, was zum Teufel mit euch los ist?«, schreit er mit unvermittelter wachsender Heftigkeit.
Alle beide drehen sich um und schauen ihren Vater an, als hätten sie es mit einem Geistesgestörten zu tun: leicht beunruhigt, aber auch mit einem Hauch von Spott in den Augen.
»Was wollt ihr überhaupt von mir?«, brüllt er. Wenn es eine Rolle gibt, die er um keinen Preis spielen will, dann die des nervtötenden Vaters; noch hat er genug Frauen und Leser und genug Aufregung und Abwechslung im Leben, dass er bei niemandem um Aufmerksamkeit betteln muss, zum Glück.
»Schrei nicht so«, sagt Jenny, sie hat es immer gehasst, wenn er laut wurde.
»Braucht ihr Unterhaltung, oder wie?«, schreit Deserti. »Eine Party mit ein paar hundert von euren Facebook-Freunden? Einen Megabildschirm, um euch einen Film mit Computeranimation anzusehen? Oder wärt ihr einfach lieber zu Hause bei eurer Mutter in England?«
Die beiden antworten nicht, ihre Gesichter sind undurchdringlich.
»Ich erkenne euch nicht wieder!«, schreit
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