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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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ihre Augen füllen sich mit Tränen vor Wut und Frust über die Beleidigung.
    »Darf ich auch mal nachschauen?«, sagt Clare zu ihr.
    Das Mädchen fixiert sie, abwehrbereit: Ihr Blick ist eigensinnig, intensiv wie der ihres Vaters. Sie nickt fast unmerklich.
    Clare mustert die Teile an einem anderen Ständer, geht um eine Trennwand herum, sucht noch weiter. Sie zieht einen lila Bikini heraus, der zumindest weder kindisch gemustert noch beschriftet ist, auch die Größe müsste ungefähr passen.
    Sie reicht ihn dem Mädchen: »Probier den mal.«
    Jenny Deserti betrachtet den Bikini mit äußerstem Misstrauen, nimmt ihn aber mit in eine Ankleidekabine und zieht den Vorhang zu.
    Daniel Deserti blickt Clare herausfordernd an: »Warum tun Sie das? Die ewige Samariterin spielen? Was haben Sie davon, wenn Sie Opfer von Autounfällen und Mädchen ohne Badeanzug retten?«
    »Das Unfallopfer war auf uns draufgefahren.« Sie merkt, wie sie wütend wird. »Und das kleine Mädchen ist in Wirklichkeit ein Teenager, das sollte sich besser auch der Vater bewusst machen!«
    Daniel Deserti wendet sich wortlos ab; er geht auf den Kassentisch zu, als wollte er nichts mehr von ihr wissen. Seine Art, sich zu bewegen, ist extrem kompakt, muskelbetont, beinahe bedrohlich.
    Sie sieht sich um, erneut unsicher, ob sie nicht einfach gehen soll.
    Der Junge deutet mit dem Kopf auf seinen Vater und zuckt die Achseln, als wolle er sagen: »So ist er eben.«
    »Wie heißt du?«, fragt Clare ihn.
    »Will«, antwortet der Junge. Er dreht sich zum Vorhang der Kabine um, in der seine Schwester den Bikini anprobiert. »You okay in there?«
    »Yeah, leave me alone!«, sagt die Schwester.
    Will kratzt sich am Kopf.
    »Du wirkst ziemlich ausgeglichen«, sagt Clare.
    Will lächelt, ganz ähnlich wie sein Vater, aber ohne dessen provokatorische Härte. »Ich gebe mir größte Mühe«, sagt er, »schließlich lebe ich zwischen einem pubertierenden Mädchen und einer Frau an der Schwelle zu den Wechseljahren.«
    Clare muss lachen, über seine Wortwahl und über die Vorstellung als solche. »Das kann ich mir denken«, sagt sie, obwohl sie nicht genügend Elemente hat, um es sich im Einzelnen auszumalen. »Und du musst der Mann im Haus sein?«
    »Mhm.« Trotz allem scheint Will recht stolz auf seine Rolle zu sein.
    »Wo wohnt ihr?«, fragt sie.
    »Kingston Near Lewes«, sagt Will. »East Sussex. Südengland.«
    »Ah, das muss schön sein«, sagt Clare.
    Will wackelt unentschlossen mit dem Kopf; dann dreht er sich um: »Also, Jen?«
    Jenny kommt mit finsterem Gesicht aus der Kabine, sagt nichts, hält aber ihren lila Bikini fest in der Hand.
    An der Kasse bezahlt Daniel Deserti, seine Kinder immer im Blick. So völlig überfordert und zerknittert wirkt er wie ein Schiffbrüchiger im Besitz einer Kreditkarte und einiger anderer Requisiten für das bürgerliche Leben, aber nur einiger. Auf einmal denkt Clare, dass sie ihn gern am Arm nehmen und durch die Regale zerren würde, um ein paar T-Shirts und ein paar Hosen für ihn auszusuchen und sie ihm hinzuwerfen, einfach so. Gleich darauf hat sie das Gefühl, dass sie ihm, ohne etwas zu sagen, die Hände auf die Brust pressen und ihn unvermittelt wild küssen möchte. Es sind zwei spontane Regungen, völlig losgelöst von ihren übrigen Gedanken; sie machen sie ratlos.
    Er nimmt die Tüte mit den Badesachen und strebt dem Ausgang zu; alle folgen ihm, treten durch die Glastüren in die Gluthitze und das weiße Licht hinaus.
    Clare hatte die Unbarmherzigkeit des Stadtsommers ganz vergessen; sie schaut sich um, ohne recht zu wissen, in welche Richtung sie gehen soll.
    Auch Daniel Deserti und seine Kinder wirken unentschieden, stehen zusammen am Bordstein der vielbefahrenen Straße.
    Sie macht eine Handbewegung, sagt: »Na gut, ich gehe«, rührt sich aber nicht.
    »Ist Ihnen nicht heiß?«, fragt Daniel Deserti. Er scheint sich wirklich zu wundern, und seinem Blick haftet auf einmal nichts Polemisches mehr an.
    »Doch, sehr«, antwortet sie.
    »Wir fahren an einen See, weiter nördlich.« Er deutet vage in Richtung Norden.
    »Mir machen Seen ein bisschen Angst«, sagt sie, ohne zu überlegen. »Vielleicht, weil ich am Lake Ontario aufgewachsen bin, und als ich in der Grundschule war, ist eine Klassenkameradin von mir darin ertrunken.«
    »Tut mir leid.« Er wirkt echt betroffen, lässt seinen Blick zum Gebäude gegenüber wandern.
    »Dad?«, sagt Jenny.
    »Aber unser See ist kein richtiger See«, sagt er. »Es ist ein

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