Sie und Er
kleiner Quellsee, ziemlich unberührt, jedenfalls zum Teil. Nicht einmal Motorboote dürfen dort fahren, das Wasser ist sauber.«
»Oh, schön«, sagt Clare. Die Hitze steigt vom glühenden Asphalt ihre Beine hinauf, streichelt ihre Haut unter dem leichten Baumwollkleid, hüllt sie ganz ein. Sie versteht nicht recht, ob das Gerede über den See eine indirekte Einladung ist oder eine Aufforderung, sich selbst einzuladen, oder einfach eine Information oder was.
»Ja«, sagt er. Er schiebt die Hände in die Hosentaschen und sieht einem knatternden Motorrad nach.
Sie wartet noch auf irgendeine Klärung, da aber nichts kommt, sagt sie: »Ich dagegen gehe nach Hause, um was Kaltes zu trinken.«
»Was denn?« Daniel Deserti dreht sich um und schaut ihr in die Augen.
»Weiß ich nicht«, sagt sie. Ihre Gedanken werden mit jedem Atemzug unschärfer von der seltsamen magnetischen Anziehung, die zwischen ihnen herrscht, von der Hitze, von den Empfindungen auf ihrer Haut. »Wasser, glaube ich.«
Er fixiert sie weiter, nickt fast unmerklich.
Sie wendet den Blick nicht ab, sie ist ganz verwirrt und aufgewühlt.
Die beiden Geschwister beobachten Clare, aus irgendeinem Grund scheinen sie sehr an ihren Reaktionen interessiert zu sein.
Sie zögert: »Und wie kommt ihr da hin, an den See? Ist Ihr Auto nicht kaputt?«
»Jemand hat mir eins geliehen.« Er streichelt seiner Tochter über den Kopf.
»Ja, aber«, sagt sie leiser, weil sie nicht weiß, ob die Kinder über das, was passiert ist, genau Bescheid wissen, »und der Führerschein?«
Er zuckt die Achseln, lächelt zaghaft.
Auch sie lächelt, völlig verunsichert. Einen Augenblick lang sieht sie sich im Auto neben ihm sitzen, die zwei Kinder hinten, zusammen unterwegs zu dem kleinen See, der kein richtiger See ist.
»Dad?«, sagt Jenny erneut; auch sie wartet auf eine Auflösung der Situation.
Aber die Situation löst sich nicht auf; sie bleiben alle vier noch mehrere Sekunden auf dem Bürgersteig stehen, direkt an der vielbefahrenen Straße.
Zuletzt sagt sie mit einem Ruck: »Dann viel Spaß am See. Viel Spaß beim Baden.«
»Danke«, sagt Will Deserti, plötzlich ungeduldig.
»Danke«, sagt Jenny Deserti.
»Danke«, sagt Daniel Deserti, sein Gesichtsausdruck ist noch in der Schwebe.
Clare gibt dem Mädchen die Hand, kommt sich aber so förmlich und ungeschickt vor, dass sie den anderen beiden nur kurz zuwinkt, sich umdreht und davongeht. Als sie die Kreuzung überquert, ist ihr, als kitzelten sie die Blicke der Desertis an den Waden und in der Kniekehle, an den Schenkeln, am Hintern, den Rücken hinauf bis in den Nacken. Auf der anderen Seite dreht sie sich unauffällig ein wenig um und sieht sie in die entgegengesetzte Richtung marschieren: drei Fremde an einem glühend heißen Sommervormittag.
Bis voriges Jahr hatten sie die Unbefangenheit eines kleinen wilden Stammes
Bis voriges Jahr hatten sie die Unbefangenheit eines kleinen wilden Stammes: Ständig suchten sie körperlich und geistig Kontakt, Stimmen und Bewegungen überschnitten sich, sie redeten zusammen, lachten zusammen, schliefen in einem Bett. Ein wunderbares Fluidum verband sie, ließ sie ununterbrochen kommunizieren, bei Vergnügen, bei Neugier, bei Hunger, bei Durst, bei Müdigkeit. Sie kannten keine festen Zeiten, machten keine Pläne; sie waren wie drei Kinder ohne Eltern, die frei tun und lassen konnten, was ihnen passte, und sie wussten nur zu genau, wie kostbar jeder gemeinsame Augenblick war, so schmerzlich weit weg vom vorherigen und vom nächsten.
In diesem Sommer ist das alles nicht mehr da, wie durch einen bösen Zauber verschwunden: Ein unüberwindliches Misstrauen herrscht zwischen ihnen und verdirbt jede Bewegung, jeden Blickwechsel. Alles, was vorher instinktiv aus dem Augenblick heraus geschah, ohne dass man ein Wort darüber verlieren musste, muss jetzt angekündigt, erklärt, diskutiert und verhandelt werden und zieht einen Rattenschwanz von Unzufriedenheit, Forderungen und Enttäuschungen nach sich. Mit seinen Kindern zusammen zu sein, erweist sich plötzlich als aufreibend und mühsam - da sind so viele unausgesprochene Wünsche und offensichtliche Schwächen, Gewohnheiten, die wer weiß wie und wann entstanden sind, und soeben gebildete, aber schon felsenfeste Meinungen, Blicke in die Ferne, heimliche Gedanken. Ihm ist, als kenne er sie gar nicht mehr oder wisse zumindest nicht, was aus ihnen geworden ist, was aus ihnen werden wird. Ihm scheint, als habe er die
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