Sie und Er
Bikini am Strand, Samantha Ramuglio Arm in Arm mit einem anderen unbekannten Mädchen, Samantha Ramuglio in der Hocke neben einem unbekannten Dalmatiner, Samantha Ramuglio lächelnd in einer ganzen Gruppe von Unbekannten rund um eine Geburtstagstorte. Dazu jede Menge Äußerungen von Samantha Ramuglio, Sätze wie: Heute würde ich am liebsten den ganzen Tag im Bett bleiben, grrr, Büro, ich hasse dich!, oder: Furchtbarer Sonnenbrand, nächstes Mal Creme mindestens Schutzfaktor jo… Es gibt auch kleine Fotos von unbekannten Schauspielern und Sängern mit den Adressen ihrer Webseiten, kindliche Zeichnungen, die vielleicht aus japanischen Comics stammen, das Logo des Fremdenverkehrsbüros von Gallipoli, Miniherzen und lächelnde Gesichter, Strophen von Gedichten aus Schulanthologien, absolut törichte Betrachtungen über das Leben, die Liebe und die Welt.
»Ich will nichts wissen über das Leben von Samantha Ramuglio!«, schreit er, mittlerweile voll in Panik. »Und auch von sonst keinem irren egozentrischen Unbekannten! Nehmt mich sofort da raus!«
»Das geht nicht.« Jenny wird wohl langsam bewusst, wie ernst es ihm ist. Sie kehrt zu der Seite mit seinem Bild und seinem Namen zurück, und er erkennt mit Entsetzen in der Reihe kleiner Gesichter in der Mitte auch das von Marcella Cartorilio, mit der er wenige Tage zuvor dummerweise ins Bett gegangen ist, und weiter unten das von Pino Noce mit seinem schlauen Idiotenlächeln, und darunter Agneta Sorenstedt, mit der er vor Urzeiten eine jahrelange Beziehung hatte, noch weiter unten sogar Sarah, seine Exfrau und Mutter seiner Kinder, darunter einen ehemaligen Schulkameraden vom Gymnasium namens Massimiliano Sottocarro, der, soweit er weiß, bei einem Bergunfall ums Leben gekommen ist.
»Was heißt, das geht nicht?«, schreit er. »Es muss doch eine Möglichkeit geben, mich aus diesem Albtraum rauszunehmen! Ich will da keine Minute länger drinbleiben!«
»Du kannst niemanden daran hindern, auf Facebook eine Fanpage für dich einzurichten, Pa«, sagt Will in seinem coolen Ton. »Es ist ja keine persönliche Seite.«
»Da steht es ganz deutlich, Fanpage, siehst du?« Jenny verschiebt den kleinen Pfeil auf dem Bildschirm, um ihn auf das Wort hinzuweisen.
»Aber das ist doch, als hätte man eine ganze Bande von Dieben im Haus!«, schreit er, in die Enge getrieben durch die ständige Vermehrung von unbekannten Männern und Frauen und ehemaligen Geliebten und Freunden und noch mehr Unbekannten samt ihren Fotos vom Urlaub, vom Hochschulabschluss und von Weihnachten, die sich in jeden Winkel seines Privatlebens einschleichen. »Und ihr findet so einen Horror ganz normal!« Unsanft schiebt er Jenny beiseite, drückt wahllos auf einige Tasten, erreicht damit natürlich gar nichts.
»Das ist zwecklos, Pa«, sagt Will von seinem Sofa her; dann entschließt er sich endlich aufzustehen.
»Was soll das heißen, zwecklos?«, schreit Daniel Deserti. »Ich will da nicht drin sein, basta! Könnt ihr das denn wirklich nicht verstehen?«
»Im Internet bist du sowieso, Pa«, sagt Will. »Selbst wenn du es schaffen würdest, die Fanpage auf Facebook zu löschen.« Um seinen Standpunkt zu verdeutlichen, setzt er sich an den Computer und öffnet eine Seite bei YouTube, tippt Daniel Deserti in das leere Fenster ein. Auf dem Bildschirm erscheint eine Reihe von Bildern von ihm an Orten und in Momenten, an die er sich nicht erinnert: an Konferenztischen vor dem Mikrophon sitzend, stehend mit seinen Büchern in der Hand. Will klickt auf eines der Bilder, es wird lebendig, ein Videofilmchen schlechtester Qualität zeigt, wie er vor einem unsichtbaren Publikum redet oder liest, mit durch die ebenso miese Tonqualität verzerrter Stimme.
»Wer hat das Zeug da reingestellt?«, fragt er, so bestürzt, dass er nicht einmal mehr die Kraft hat zu schreien.
Will zuckt die Achseln: »Jeder kann das.« Er blickt seinen Vater an, wie um festzustellen, ob er die Sache erfasst.
»Ja aber, wie haben sie das denn aufgenommen?« Daniel Deserti denkt an die vielen Male, die er vor Publikum geredet oder gelesen hat, fast immer gegen seinen Willen und nur, weil ihn der Verlag dazu zwang. Er denkt an all die Augenblicke von Gereiztheit, mangelnder Inspiration, geistiger Ermüdung infolge sinnloser Reisen, tiefer Verlegenheit und Langeweile, an die wiederkehrende Versuchung, keine einzige Seite mehr zu schreiben, endgültig von der Bildfläche zu verschwinden.
»Mit dem Fotoapparat, dem Handy, wie auch immer«,
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