Sie und Er
lachen könnte, wenn sie nicht in diesem Zustand wäre. Und wenig später ist die Sonne schon hinter dem Hügelkamm verschwunden; im Garten und rundherum verliert das Licht rasch den fiebrigen Glanz. Die Luft kühlt ab, die Zikaden verlangsamen ihren Rhythmus. Wie jedes Mal empfindet sie ein Gefühl von Wohltat und Verlust zugleich, Erleichterung und Sehnsucht durchdringen ihre Seele.
»Willst du den Sonnenuntergang am Meer sehen?«, fragt sie, ohne zu überlegen. Gleich danach denkt sie, dass sie sich eigentlich von ihm verabschieden sollte und fertig, dass sie ihren Rucksack schultern, zum Bahnhof gehen und den Zug nach Mailand nehmen sollte. Aber der Gedanke kommt zu spät, er taucht zwischen ihren Empfindungen auf wie die Katze, die jetzt lautlos das Steinmäuerchen entlangläuft und irgendwohin verschwindet. Und sie hat überhaupt keine Lust, wieder in einem Zug zu sitzen, auf einmal wieder in der Stadt zu sein, diese seltsame Stimmung zu durchbrechen.
»Ja.« Daniel Deserti steht auf und geht auf das Tor zu.
Er kann sich nicht mehr erinnern, wann er zum letzten Mal Motorrad gefahren ist
Er kann sich nicht mehr erinnern, wann er zum letzten Mal Motorrad gefahren ist: Es muss mindestens fünfzehn Jahre her sein. Und es ist auch kein Motorrad, sondern ein Roller, ohne Tank in der Mitte, mit einem roten Schutzblech über dem Hinterrad zur Abschirmung der Beine und vorn einem Windschutz aus Plexiglas. Die Moletto nimmt ihren Helm aus dem Staufach und holt noch einen zweiten aus dem Schuppen. Sie bewegt sich so locker und natürlich, ihre krausen Haare sind zu einem kleinen Zopf geflochten, das T-Shirt lässt die bernsteinfarbenen Arme frei, die langen Beine stecken in einer grauen Cargohose mit vielen Taschen, die Füße in Sandalen: Sie wirkt meilenweit entfernt von dem wohlerzogenen bürgerlichen Mädchen, das ihn in Mailand aus dem Auto gezogen hatte, nach dem Unfall im Regen.
»Hier.« Sie hält ihm den zweiten Helm hin.
Er nimmt ihn, setzt ihn auf; mit fahrigen Fingern versucht er den Riemen unter dem Kinn zu schließen.
Die Moletto hilft ihm: Ihr genügt eine rasche Geste, aber sofort sind sie sich wieder sehr nah, atmen aus wenigen Zentimetern Abstand den Duft des anderen ein, in der von jeder Fläche vervielfachten Hitze.
Er schiebt den Roller vom Ständer, will ihn anlassen, schafft es aber nicht.
Sie lacht. »Du musst die Bremsen drücken«, sagt sie und zeigt ihm, wie.
Er probiert es erneut: Der Motor springt an, wrrrrmm, wrrrrmm, der Roller macht einen Satz nach vorn, reagiert rascher, als er vermutet hat. Er fühlt sich nicht Herr der Lage, was ihn einerseits amüsiert, andererseits beunruhigt. Wenn er ein Glas Spumante mehr getrunken hätte, denkt er, würde er sich vielleicht besser im Hier und Jetzt verankert fühlen, ohne die Angst, umzukippen und wie ein Idiot dazustehen.
»Bist du sicher, dass du fahren willst?«, sagt die Moletto, und er hat keine Ahnung, ob ihre Frage völlig unschuldig oder ein absichtlicher Versuch ist, ihn durcheinanderzubringen.
»Ja«, antwortet er, obwohl »sicher« das allerletzte Wort ist, das er in diesem Moment für seinen Zustand wählen würde.
Sie öffnet das Tor, hält einen Flügel auf, um Deserti vorbeizulassen, schließt es wieder. Ihre Art, sich umzudrehen, gefällt ihm; sie hat einen schönen, hohen, runden Po.
Er fährt ruckelnd hinaus, stützt einen Fuß auf den Boden, biegt mit größter Vorsicht in die kleine Asphaltstraße ein, die ihm noch steiler vorkommt als auf dem Herweg. Er bremst, hält sich mit den Beinen aufrecht.
Sie steigt hinter ihm auf, stellt die Füße auf die kleinen Stützen: »Los.«
Der Roller schwankt fürchterlich, bevor er auf der abschüssigen Straße das Gleichgewicht findet. Sie bleibt gelassen; als sie unten angekommen sind, sagt sie: »Nach rechts.«
Er verlangsamt, biegt in die asphaltierte Straße ein, beschleunigt in der Steigung, bremst, gerät erneut ins Schleudern, wird wieder schneller.
Sie ist auch eine gute Beifahrerin: Sie klammert sich nicht fest, lehnt sich weder vor noch zurück, verlagert ihr Gewicht nicht brüsk zur Seite. Es scheint sie nicht sonderlich zu beunruhigen, sich und ihren Motorroller einem Mann anzuvertrauen, mit dem sie als Erstes durch einen Auffahrunfall in Berührung gekommen ist; sie dreht sich um und betrachtet im Vorbeifahren die Hügelflanke: »Ich mag diese Stunde.«
»Ich auch«, antwortet er laut, damit sie ihn hört. Allmählich wird er mit dem Fahrzeug vertraut.
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