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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea de Carlo
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Überlebenstechniken geübt.«
    »Na ja, die sind doch recht nützlich, oder?«, sagt er.
    Sie zuckt die Achseln, lächelt. In der Tat hat sie etwas an sich, das daher kommen muss: auch jetzt, wie sie dasitzt, locker, aber mit geradem Rücken, in der Schwebe zwischen Entspannung und Anspannung.
    »Auch als du mich nach dem Unfall herausgezogen hast«, sagt er, um sie ein wenig auf den Arm zu nehmen. »Da hat man gleich gemerkt, dass du dich auskanntest.«
    Sie blickt ihn an, den Kopf leicht geneigt, ein seltsames Leuchten in den Augen. Ihre Physiognomie ändert sich je nach Blickwinkel, nach Licht, nach Situation: Verschiedene Seiten kommen zum Vorschein, mal ironische, mal tiefsinnige.
    »Und deine Mutter?« An diesem Punkt, denkt er, kann er auch gleich ihren gesamten Hintergrund erfragen. »Woher stammt die?«
    »Aus Irland«, sagt sie. »Ihre Familie ist viele Generationen vor der meines Vaters nach Amerika gekommen. Ihr Ururgroßvater hat mit dem Bruder von Jesse James zusammengearbeitet.«
    »Mit dem Bruder?«, lacht er.
    »Frankie James«, sagt sie ernst.
    »Wie ist deine Mutter?«, fragt er.
    »Geheimnisvoll, unergründlich«, erwidert sie. »Von der ätherischsten Unbestimmtheit geht sie nahtlos zu klaren Ansprüchen über.«
    Er ist hingerissen von der Art, wie sie das T ausspricht: mit der Zungenspitze, die die oberen Zähne berührt und ganz kurz hervorschaut, rosa, feucht. »Haben sie sich oft gestritten?«, fragt er.
    Sie nippt an ihrem falschen Negroni, blickt in die tief über dem Meer stehende Sonne. »Sie waren ein Extremfall von Anziehung der Gegensätze.«
    »Der schöne Italiener mit der schönen Irländerin«, sagt er, einige recht lebendige Bilder von einem möglichen Vater und einer möglichen Mutter vor Augen.
    »Woher weißt du, dass sie schön waren?«, sagt sie.
    »Ich schaue dich an«, sagt er.
    »Ach was.« Ihm ist, als erröte sie, doch sicher sein kann man bei diesem Licht nicht. »Stimmt es nicht?«, fragt er.
    »Doch«, sagt sie. »Unser Vater hatte große, dunkle Augen, volle Lippen. Er war muskulös, gut gebaut, hatte eine Art schmachtende Körperlichkeit verbunden mit latenter Aggressivität.«
    »Und eure Mutter?«, fragt er. Er versucht es zu erraten, indem er sie betrachtet: die Gesichtszüge hinter ihrem Gesicht, die Zeichen und Spuren ihrer Herkunft.
    »Milchweiße, durchsichtige Haut«, sagt sie. »Und durchsichtige Augen, wie der Himmel. Sie war Papas südländischer Sinnlichkeit absolut hörig, und dafür schämte sie sich, glaube ich, obwohl sie es nicht zeigte. Sie bemühte sich, uns nach unbeugsamen moralischen Grundsätzen zu erziehen, und derweil war da dieser magnetische Strom zwischen ihnen. Das merkten wir auch als Kinder. So etwas spürt man.«
    »Zum Beispiel?« Unbeirrt folgt er mit dem Blick den Linien ihres Mundes, ihrer Wangenknochen, ihrer Brauen, ihrer Nase.
    Sie schließt halb die Augen. »Es genügte, im Sommer an einem Sonntagnachmittag aus Versehen ihr Zimmer zu betreten und zu sehen, wie sie zwischen den Laken lagen und sich ausruhten.«
    »Wie denn?« Er sucht weiter in ihrem Gesicht nach den zwei gegensätzlichen Naturen, die beide darin existieren und sie viel komplizierter, viel interessanter und schwerer klassifizierbar machen, als er am Anfang gedacht hatte.
    »Verloren, erschöpft«, sagt sie.
    »Hm!« Er kann das Licht im Zimmer sehen, den hellen Vorhang am Fenster, den kein Lufthauch bewegt.
    »Natürlich nur, wenn er da war«, sagt sie. »Wenn er nicht irgendwo anders auf der Welt war, um Leuten beizubringen, wie man jemanden geräuschlos umbringt.«
    »Beunruhigte euch diese Anziehung zwischen den beiden?« Er versucht die Bilder zu sortieren, die ihm durch den Kopf gehen.
    »Manchmal«, sagt sie. »Vor allem der Widerspruch zwischen der Tatsache, dass man über bestimmte Dinge nicht einmal sprechen durfte, und der Tatsache, dass genau diese Dinge eindeutig im Mittelpunkt ihrer Beziehung standen.«
    »Sex?«, sagt er. »Leidenschaft?«
    Sie nickt. »Die seltsame Kraft, die sie magnetisch anzog und sie zusammenhielt, trotz ihrer Verschiedenheit, oder vielleicht deswegen. Das ständige Spiel zwischen der ausgeprägten Männlichkeit unseres Vaters und der extremen Weiblichkeit unserer Mutter. Seine Begierde, die träumerische, aber gleichzeitig widerwillige Art, mit der sie es genoss, Objekt dieser Begierde zu sein. Sie ist eine verführerische Frau, auch jetzt noch.«
    »Ach ja?« Deserti ist beeindruckt von ihrer Fähigkeit zu erzählen, vom

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