Sie und Er
freundschaftlich, sie kennt ihn, wie auch noch andere Personen, die ihr von Tischen weiter drüben zuwinken. Sie lächelt, winkt ebenfalls mit ihren eleganten Fingern. Sie denkt kurz nach und bestellt einen falschen Negroni, daraufhin wählt er mit scheinbar gleicher Unbefangenheit einen Vodkatini. Sie lächeln sich zu, aber ohne sich anzuschauen; sie drehen ihre Stühle so, dass beide der untergehenden Sonne zugewandt sind, strecken die Beine aus, nehmen das rotgoldene Licht auf. Sie schweigen, bis der Typ aus der Bar ihre Cocktails und einen Teller Focacciastückchen bringt und mit einer weiteren kleinen Verbeugung wieder verschwindet. Deserti greift nach seinem offenen Kelch mit dem schmalen Stiel, hebt ihn, um mit ihr anzustoßen.
»Prost!«, sagt sie lachend: die Mädchen-Kind-Frau, fröhlich, frei, unabhängig, lebhaft. Sie berührt mit dem Rand ihres Glases das seine und nimmt einen Schluck von ihrem Getränk, das die gleiche Farbe hat wie der Sonnenuntergang vor ihnen.
Er trinkt ebenfalls, mit einem Hauch Bedauern, nichts Stärkeres genommen zu haben, denn sein Cocktail ist durchsichtig und trocken. Doch der Alkohol tut seine Wirkung, wenn auch schwächer und langsamer, als er es jetzt brauchte; er bestellt einen zweiten, als er noch mindestens einen Schluck übrig hat.
Sie nippt bedächtig ihren falschen Negroni und schaut aufs Meer.
»Wie kommt eine Amerikanerin hierher?«, fragt er mit einer Handbewegung, die die Bar, die Sonne, das Meer, die Küste und die Berge dahinter einschließt.
»Mein Urgroßvater väterlicherseits war aus Zoagli«, antwortet sie. »Er arbeitete als Matrose auf den Überseedampfern.«
»Moletto«, sagt er.
Sie nickt; sie hat diese Art, ab und zu die Augen zusammenzukneifen, um ein Detail schärfer zu sehen oder weiter in die Ferne zu blicken. »Er fuhr auf der Route Italien-Amerika, zuletzt hat er beschlossen, dorthin auszuwandern.«
»Wohin?«, fragt er.
»Rochester«, erwidert sie. »New York State.«
»Einmal war ich in Syracuse«, sagt er; sofort fühlt er sich albern, weil es wirkt, als versuchte er, alles auf sich zu beziehen. »Das ist da in der Nähe, oder?«
»Ja«, sagt sie.
»Es lag eine Menge Schnee«, sagt er, in der Erinnerung an seine nächtliche Ankunft an einem Busbahnhof, das Herz vereist von einer Beziehung, die gerade in die Brüche gegangen war. »Mauern von Schnee.«
»Die Winter da oben sind ziemlich hart«, sagt sie. »Mein Großvater sagte immer, man sollte nie auf der Ostseite eines Landes oder Kontinents leben.«
»Das stimmt, auf der nördlichen Erdhälfte.« Er findet die Klarstellung selbst pedantisch.
»Er wäre gern nach Kalifornien gegangen«, sagt sie, »hat es aber bloß geschafft, im Alter eine Woche dort Urlaub zu machen.«
»Also bist du auch in der Kälte aufgewachsen?« Vor seinem inneren Auge sieht er ein kleines Mädchen im Schnee, auf einem zugefrorenen See.
»ja«, sagt sie. »Im Winter schliefen meine Schwestern und ich mit Wollsocken und Mütze, morgens kostete es riesige Überwindung, aus dem Bett zu kriechen und in die Schule zu gehen.«
»Du hast Schwestern?«, fragt er.
»Vier.« Sie hebt die Hand, knickt den Daumen, zeigt die vier Finger.
»Donnerwetter«, sagt er. »Und Brüder?«
Sie schüttelt den Kopf: »Lauter Frauen in der Familie. Und mein Vater war einer von denen, die gern in männlicher Gesellschaft leben und nicht zugeben wollen, auch nur den winzigsten weiblichen Anteil in ihrer Persönlichkeit zu haben.«
»Was machte er?« Warum er jetzt so viele Informationen einholt, weiß er nicht, gewöhnlich hütet er sich vor dieser Art Befragung. In zwei seiner Bücher hat er auch eine Theorie dazu aufgestellt, wie entscheidend es sei, sich in der Praxis und auch mental von den Familien der anderen fernzuhalten.
»Er bildete die Soldaten der Spezialtruppen aus«, antwortet sie. »Nahkampf, Überlebenstechniken.«
»Aha.« Er merkt, wie ein leicht beunruhigendes männliches Konkurrenzgefühl in ihm hochkommt.
»Ja«, sagt sie. »Er hatte eine eigene Kampfsportart aus Jiu-Jitsu, Karate, Taekwondo und Aikido erarbeitet.«
»Und die hat er auch euch Töchtern beigebracht?« Ihm ist, als könnte er sie und ihre Schwestern als kleine Mädchen sehen, in Kampfsportstellungen auf einer amerikanischen Wiese; ein weiterer Beweis dafür, denkt er, dass du, sobald du deine Nase in das Leben einer Frau steckst, Gefahr läufst, ihre Geisel zu werden.
»Ein bisschen was«, sagt sie. »Mit uns hat er vor allem
Weitere Kostenlose Bücher