Sie und Er
nicht; sie erkennt sich doch. Dann läuft sie wieder hinunter, hinaus in die Hitze.
Er ist erneut unten im Garten, sitzt gedankenverloren auf einem der Sesselchen im spärlichen Schatten eines Olivenbaums. Als er sie die Stufen herabkommen sieht, dreht er den Kopf, schließt halb die Augen.
Sie zögert, dann setzt sie sich in das andere Sesselchen, zieht es einen halben Meter nach hinten. Der Schatten ist durchlässig; sie haben die Ohren voller Geräusche. Sie sehen sich an, als wollten sie gleich etwas sagen, sagen aber nichts; sie lassen die Zikaden den Raum mit ihrem Lärm erfüllen. Ab und zu mustert sie ihn unauffällig: Er wirkt immer noch in Gedanken versunken, längst nicht mehr so herausfordernd wie bei seiner Ankunft. Sie würde gern etwas über ihn wissen, kann aber keine Frage formulieren.
»Dein Vater hat diesen Platz hier gefunden, nicht wahr?«, sagt er und bricht damit das Schweigen.
Ihr Herzschlag setzt einmal aus: »Woher weißt du das?«
»Das haben sie mir in der Bar unten erzählt«, erwidert er. »Der verrückte Amerikaner, sagten sie.«
»Er war überhaupt nicht verrückt.« Sie fühlt, wie sie errötet. »Ganz im Gegenteil.«
»Ich finde, das ist ein Kompliment, weißt du.« Er lächelt, einen Hauch Wehrlosigkeit im Blick.
Sie betrachtet die Hängematte zwischen den zwei Olivenbäumen, den knorrigen Apfelbaum mit den zu langen Ästen.
»Jedenfalls spürt man es«, sagt er.
»Was?«, fragt sie. Sie ist sich bewusst, dass sie ihn auf einmal zu aufmerksam ansieht, zu viel erwartet. Die Grenzen zwischen ihren Gefühlen und seinen Gedanken scheinen immer mehr zu verfließen.
»Seine Gegenwart.« Mit der Hand weist er um sich herum.
Sie lässt sich von seinem Blick entführen.
»Und man spürt, dass dies der Endpunkt einer langen Suche ist«, sagt er.
Sie schweigt. Da hatte sie sich so bemüht, um erst Alberto und dann Stefano die Bedeutung dieses Ortes zu erklären - ohne den geringsten Erfolg. Und er erfasst es einfach so.
Er zeigt auf die Lorbeerhecke, die den Garten an der unteren Seite abschließt, auf das gesplitterte, verkohlte Stück Holz mit weiß-blauen Lackspuren und einer roten Linie. »Was ist das?«, fragt er.
»Das Boot meines Vaters«, erwidert sie.
Er wirkt gar nicht erstaunt über die Erklärung. »Verbrannt?«, fragt er.
»Explodiert«, sagt sie.
Er schließt halb die Augen.
»Er war krank und wusste, dass nichts mehr zu machen war«, sagt sie. »In einer Vollmondnacht hat er das Boot mit Dynamit gefüllt und ist aufs offene Meer hinausgefahren.« Sie fixiert ihn, bereit, jeden urteilenden Kommentar, jede ironische oder banale Bemerkung abzuschmettern.
Er nickt einfach: Seine Augen sind warm, aufmerksam.
»Er hätte es nicht ausgehalten, langsam in seinem Bett dahinzusiechen«, sagt sie. »Und er wollte keinen Körper hinterlassen, der beerdigt oder verbrannt werden muss.«
»So ähnlich würde ich es auch halten wollen«, sagt er. »Aber dazu braucht man große Geistesgegenwart, genau dann, wenn sie im Abnehmen begriffen ist. Der Punkt ist, dass du den Moment erkennen musst, wo dir kein Spielraum mehr bleibt.«
Sie sieht ihn weiterhin forschend an und hat nicht den Eindruck, dass er nur so daherredet: Sein Gesichtsausdruck ist so eindringlich, es erschreckt sie fast, wie nah er ihr ist.
»Ich wollte ein Stück von dem Boot behalten«, sagt sie. »Es gab noch mehr, ich habe das ausgesucht, das mir am besten gefiel.«
»Sehr gut«, sagt er. »Ein großartiger Mann.«
»Ja«, erwidert sie.
»Kein einfacher, vermute ich«, sagt er. »Nein«, bestätigt sie.
Er steht auf, kniet sich wortlos vor sie hin, streckt die Hände aus und umfasst ihr Gesicht. Sie sehen sich aus abnehmendem Abstand an, umtanzt von Licht und Farbe, gebrochen in Splitter, winzige Teile, einzelne, unstet leuchtende Pigmente. Sie denkt, dass sie sich vielleicht nähern könnten, bis ihre Lippen sich berühren, feucht, warm; aber es kommt ihr auch absurd und unbegründet vor.
Gleich danach hat er sich schon aufgerichtet, sitzt wieder in dem alten Rattansesselchen; beide nehmen wieder ihre ursprüngliche Haltung ein. Sie lächeln, in einem Übergangsstadium zwischen verschiedenen Unsicherheiten. Sie erhebt sich ebenfalls, ihr Sesselchen fällt um, sie will es wieder aufstellen, es gelingt ihr aber nicht sofort. Sie dreht sich zur Sonne um, die langsam über den Hügeln im Westen sinkt: »Sie geht bald unter.«
»Jetzt schon?« Sein Ausdruck ist so erstaunt, dass sie fast darüber
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