Sie und Er
abstellen, Fahrkarte kaufen, in den Zug steigen. Sie geht ins Schlafzimmer hinauf, zieht die leichte Baumwollhose mit den vielen Taschen an, putzt sich die Zähne, schaut sich um, ob sie nichts Wichtiges vergessen hat. Dann tritt sie ans Fenster, um die Läden zu schließen, und sieht einen Mann in weißem Hemd und dunkler Killerbrille das steile Sträßchen heraufkommen, das zwischen zwei Steinmäuerchen zum Haus führt. Seltsam, in dem blendenden Licht kann sie ihn nicht deutlich erkennen, und dennoch hat sie nicht den geringsten Zweifel: Es ist Daniel Deserti.
Diese Erkenntnis versetzt sie augenblicklich in Panik: die erste Reaktion, die ihr in den Sinn kommt, ist, aus dem rückwärtigen Fenster zu schlüpfen, auf dem Maultierpfad wegzulaufen und zwischen den Olivenbäumen abzuwarten, bis er wieder gegangen ist. Doch ebenso rasch und heftig wächst ihre Neugier, schießt ihr ins Blut und beschleunigt ihren Herzschlag. Sie späht noch zwei-, dreimal hinter dem halb geschlossenen Fensterladen hervor, dann findet sie es absurd, sich weiter so zu verstecken; sie geht hinunter, zögert kurz zwischen Küche und Haustür, tritt hinaus.
Daniel Deserti ist nur noch wenige Meter entfernt: Ihre Blicke kreuzen sich, und beide zucken leicht zusammen, im selben Moment.
»Also ist es das richtige Haus«, sagt er lächelnd. Er keucht wegen der Steigung, aber nicht sehr. In der Hand hält er eine Flasche Spumante Rose: Kleine Tropfen laufen über das dunkle, beschlagene Glas.
»Was machen Sie hier?«, sagt sie, die Augen wegen der Sonne halb geschlossen.
»Ich kam hier vorbei«, sagt Daniel Deserti. Er nimmt die Killerbrille ab, wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.
»Das ist aber kein Ort, an dem man einfach so vorbeikommt«, sagt sie.
»Nein.« Er wendet sich um. Seine Art, sich zu bewegen, ist ausgeprägt männlich: kontrolliert und doch angespannt, leicht bedrohlich.
Der Rhythmus der Zikaden lässt die Luft vibrieren.
»Unser Telefongespräch war nicht besonders«, sagt er.
»Nein«, erwidert sie. Der abschüssige Hang ist für sie von Vorteil, der Stand der Sonne aber von Nachteil: Sie fühlt sich exponiert und kann ihn doch nicht gut sehen.
»Heiß.« Er wischt sich erneut mit der Hand über die Stirn.
»Wie haben Sie das Haus hier gefunden?«, fragt sie. Sie atmen auf gleiche Weise, auch wenn er wer weiß wie lange bergauf geklettert ist, sie nicht.
»Es gibt nicht viele San Minimo, glaube ich.« Daniel Deserti lächelt. »Außerdem sind Sie hier in der Gegend offenbar ein Begriff. Ich habe in der Bar unten an der Staatsstraße gefragt, wo mich das Taxi abgesetzt hat, und sie sind zu zweit herausgekommen, um mir den Weg zu erklären. >Die schöne Amerikanerin<, sagten sie. Sie haben echte Fans unter den Leuten hier.«
»Wie auch immer, ich wollte gerade gehen«, sagt sie, ohne ein kleines Lächeln unterdrücken zu können. Doch je mehr sie den Eindruck hat, dass seine Gesichtszüge wieder entspannt sind, umso mehr nervt sie sein ungefragtes Auftauchen.
»Aber ich bin doch gerade erst angekommen«, protestiert er. Sein weißes, verschwitztes Baumwollhemd klebt an den breiten Schultern, den muskulösen Armen.
»Ich habe Sie ja nicht hergebeten.« Sie wirft einen Blick ins Haus, betrachtet den Teil des Gartens weiter unten; sie glaubt, dass sie ihm keine Erklärungen schuldig ist oder Ausreden erfinden muss, aber ganz sicher ist sie nicht.
»Trinken wir nicht wenigstens einen Schluck?« Daniel Deserti hebt die Flasche hoch, die er in der Hand hält. »Bevor er zu warm wird?« In Wirklichkeit, wenn man genau hinschaut, wirkt er gar nicht so sicher: Am Grund seiner Augen, in seiner Art dazustehen, liegt ein Hauch von Verzweiflung.
Sie zögert: »Nur einen Schluck, dann muss ich los.« Sie geht in die Küche, holt zwei Gläser, tritt rasch wieder hinaus, aus Angst, dass er hereinkommen könnte. Doch er sitzt auf dem Mäuerchen, das das Haus vom Garten trennt, und betrachtet die steinerne Fassade.
»Es gefällt mir«, sagt er, als hätte sie auf seine Meinung gewartet. Er steht auf, geht die Stufen zu dem kleinen wilden Garten hinunter, lehnt sich an den Tisch hinter den Zitronenbäumchen, entfernt bedächtig die Metallkapsel von der Spumante-Flasche.
Sie beobachtet ihn oben von der grauen Steintreppe aus, die Gläser in der Hand. Absurd, diese Situation, und dennoch ist sie beinah sicher, dass sie sie vorhergesehen hat: in einem seltsamen Traum, in irgendeinem verwinkelten
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