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Titel: Sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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waren ärgerlich, aber nebensächlich. Er hatte mehr Probleme mit der Überzeugungskraft als jemals zuvor - das Spiel Kannst du? war zu einer konzentrierten Anstrengung geworden und machte keinen Spaß mehr. Dennoch machte das Buch Fortschritte, trotz der schrecklichen Dinge, die Annie ihm angetan hatte, und er konnte darüber jammern, wie etwas - vielleicht sein Schneid - zusammen mit dem Viertelliter Blut ausgelaufen war, den ihn der Verlust seines Daumens gekostet hatte, aber es war immer noch eine verdammt gute Geschichte, sein weitaus bester Misery -Roman bisher. Die Handlung war melodramatisch, aber gut konstruiert, auf ihre eigene bescheidene Weise recht amüsant. Wenn er jemals anderswo als in der streng limitierten Annie-Wilkes-Edition (Erste Auflage: 1 Exemplar) veröffentlicht werden sollte, dann würde er wahrscheinlich weggehen wie warme Semmeln. Ja, er ging davon aus, dass er ihn zu Ende bringen würde, wenn die gottverdammte Schreibmaschine durchhielt.
    Ich dachte, du wärst so stark, dachte er einmal, nach einer seiner zwanghaften Trainingseinheiten im Schreibmaschine-Stemmen. Seine Arme zitterten, der Stumpf seines Daumens juckte fiebrig, seine Stirn war von einem feinen Schweißfilm überzogen. Du warst der zähe junge Revolvermann, der es dem lahmen alten Scheißdreck von einem Sheriff schon zeigen wollte, nicht wahr? Aber du hast bereits eine Type verloren, und ich sehe, dass einige der anderen, zum Beispiel das T, das E und vielleicht das
G langsam merkwürdig aussehen … manchmal neigen sie sich in die eine Richtung, manchmal in die andere, manchmal stehen sie ein wenig zu hoch auf der Zeile, manchmal ein wenig zu tief. Ich glaube manchmal, der lahme alte Scheißdreck wird gewinnen, mein Freund. Ich glaube, der lahme alte Scheißdreck wird dich besiegen … und es könnte sein, dass das alte Miststück das gewusst hat. Das könnte der Grund sein, weshalb sie mir den linken Daumen genommen hat. Wie das alte Sprichwort sagt, sie ist vielleicht verrückt, aber sie ist nicht dumm.
    Er sah die Schreibmaschine mit müder Eindringlichkeit an.
    Mach schon. Komm und geh kaputt. Ich werde es dennoch zu Ende schreiben. Wenn sie mir einen Ersatz besorgen möchte, dann danke ich ihr von Herzen, aber wenn nicht, dann werde ich es auf einem verdammten Notizblock zu Ende schreiben.
    Was ich auf keinen Fall tun werde, ist schreien.
    Ich werde nicht schreien.
    Ich.
    Ich werde nicht.

12
    Ich werde nicht schreien!
    Er saß jetzt hellwach am Fenster und war sich völlig darüber im Klaren, dass der Polizeiwagen, den er in Annies Einfahrt sah, so wirklich war, wie es sein linker Fuß einst gewesen war.
    Schrei! Gottverdammt, schrei!

    Er wollte es, aber seine Konditionierung war zu stark - einfach zu stark. Er konnte nicht einmal den Mund öffnen. Er versuchte es und sah im Geiste die braunen Betadintropfen von der Messerklinge spritzen. Er versuchte es und hörte das Knirschen der Axt auf dem Knochen, das leise Flopp , als das Streichholz in ihrer Hand den Bernz-O-matiC entzündete.
    Er versuchte, den Mund zu öffnen, und konnte es nicht.
    Versuchte, die Hände zu heben. Konnte es nicht.
    Ein schreckliches Stöhnen entrang sich seinen zusammengepressten Lippen, und seine Hände trommelten leicht und planlos auf dem Brett zu beiden Seiten der Royal, aber mehr konnte er nicht tun, er schien nicht imstande, sein Schicksal energischer in die Hand zu nehmen. Nichts, was ihm bisher zugestoßen war - abgesehen vielleicht von dem Augenblick, als er gesehen hatte, wie sich sein linkes Bein bewegte, der linke Fuß aber nicht -, war so schrecklich gewesen wie diese Unfähigkeit, sich zu bewegen, es war die Hölle. In Wirklichkeit dauerte es nicht lange; vielleicht fünf Sekunden, sicher nicht länger als zehn. Aber in Paul Sheldons Kopf schien es Jahre zu dauern.
    Dort, direkt vor seinen Augen, befand sich die Rettung: Er musste nur das Fenster zertrümmern und die Konditionierung überwinden, mit der das Miststück seine Zunge gelähmt hatte, und Helfen Sie mir, helfen Sie mir, retten Sie mich vor Annie! Retten Sie mich vor der Göttin! schreien.
    Gleichzeitig schrie eine andere Stimme: Ich bin brav, Annie! Ich werde nicht schreien! Ich bin brav, ich bin brav, um der Göttin willen! Ich verspreche, dass ich nicht schreien werde, aber schneide mir bitte nichts mehr ab! Hatte er gewusst, hatte er vor dieser Situation wirklich und wahrhaftig
gewusst, wie schlimm sie ihn unter der Knute hatte, wie viel seines inneren Selbst -

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