Sie
sei Gott vor! - keinerlei Pläne in diese Richtung, aber sie wollte unbedingt , dass er die Bilder sah und ihr mitteilte, was sie falsch gemacht hatte (und das sei, dessen war sie sich sicher, eine ganze Menge). Mrs. Roman D. (»Virginia«) Sandpiper hoffte auch, seine Meinung hören zu dürfen. Als er ihre Bilder betrachtet hatte, hatte er ein Gefühl gehabt, das seltsam und dennoch auf unheimliche Weise ungreifbar gewesen war - es war, als hätte er Fotos seiner eigenen Fantasie betrachtet, und er wusste genau, von dieser Stunde an würden ihm jedes Mal, wenn er versuchte, sich
Miserys kleine Kombination von Salon und Arbeitszimmer vorzustellen, sofort Mrs. Roman D. (»Virginia«) Sandpipers Polaroids vor Augen stehen und seine Fantasie mit ihrer fröhlichen, aber eindimensionalen Konkretheit beeinträchtigen. Ihr sagen, was nicht stimmte? Das war Irrsinn. Von nun an würde er derjenige sein, der sich diese Frage stellte. Er hatte einen kurzen Brief mit seiner Bewunderung und seinen Glückwünschen zurückgeschrieben - einen Brief, der keine der Fragen anschnitt, die ihm, was Mrs. Roman D. (»Virginia«) Sandpiper anbelangte, im Kopf herumgingen: wie meschugge sie eigentlich war, zum Beispiel - und er hatte als Antwort darauf einen zweiten Brief mit einer weiteren Fuhre Polaroids erhalten. Mrs. Roman D. (»Virginia«) Sandpipers erster Brief hatte aus zwei handgeschriebenen Seiten und sieben Polaroids bestanden. Dieser zweite Brief bestand aus zehn handgeschriebenen Seiten und vierzig Polaroids. Der Brief war eine erschöpfende (im wahrsten Sinne des Wortes) Auflistung, wo Mrs. Roman D. (»Virginia«) Sandpiper jedes einzelne Stück gefunden hatte, wie viel sie dafür bezahlt hatte und wie es jeweils restauriert worden war. Mrs. Roman D. (»Virginia«) Sandpiper hatte ihm geschrieben, dass sie einen Mann namens McKibbon gefunden hatte, der ein altes Gewehr besaß, und sie hatte ihn dazu gebracht, das Einschussloch in die Wand neben dem Stuhl zu schießen - sie konnte die historische Korrektheit des Gewehrs zwar nicht beschwören, aber Mrs. Roman D. (»Virginia«) Sandpiper verbürgte sich dafür, dass es das richtige Kaliber war. Bei den Bildern handelte es sich größtenteils um Nahaufnahmen. Wären die handgeschriebenen Erläuterungen auf der Rückseite nicht gewesen, dann hätte man sie für WAS IST DAS?-Fotos
aus Rätselmagazinen halten können, wo Makroaufnahmen den Draht einer Büroklammer wie eine Säule oder den Deckel einer Bierdose wie eine Skulptur von Picasso aussehen ließen. Diesen Brief hatte Paul nicht beantwortet, aber das hatte Mrs. Roman D. (»Virginia«) Sandpiper nicht davon abgehalten, ihm fünf weitere zu schicken (die ersten vier mit weiteren Polaroidfotos), bevor sie schließlich in ein verwirrtes, leicht gekränktes Schweigen verfallen war.
Der letzte Brief war schlicht und formell mit Mrs. Roman D. Sandpiper unterschrieben gewesen. Die Aufforderung (und sei sie noch so beiläufig gemacht worden), sie Virginia zu nennen, hatte sie offenbar zurückgezogen.
Die Gefühle dieser Frau, so besessen sie gewesen sein mochte, hatten sich niemals zu Annies paranoider Fixierung entwickelt, aber Paul begriff jetzt, dass der Ursprung derselbe gewesen war. Der Scheherazade-Komplex. Die tiefe und elementare Anziehungskraft des Muss .
Er trieb weiter und weiter davon. Er schlief.
10
In diesen Tagen döste er ein, wie alte Männer eindösen, unvermittelt und manchmal zu den ungünstigsten Zeitpunkten, und er schlief auch so, wie alte Männer schlafen - das heißt, nur durch die dünnste Membran von der Welt des Wachseins getrennt. Er hörte nicht auf, den Rasenmähertraktor zu hören, aber sein Brummen wurde tiefer, rauer, abgehackter: das Geräusch des elektrischen Messers.
Er hatte sich den falschen Tag ausgesucht, um sich über die Royal und das fehlende N zu beschweren. Und
selbstverständlich gab es nie einen richtigen Tag, zu Annie Wilkes Nein zu sagen. Die Strafe wurde vielleicht aufgeschoben … aber niemals aufgehoben.
Nun, wenn Sie das so sehr stört, dann werde ich Ihnen wohl etwas geben müssen, was Sie von diesem alten N ablenkt. Er hörte sie in der Küche herumstöbern, Sachen durcheinanderwerfen und in ihrer seltsamen Annie-Wilkes-Sprache fluchen. Zehn Minuten später kam sie mit der Spritze, dem Betadin und dem elektrischen Messer zurück. Paul begann sofort zu schreien. In gewisser Weise war er wie ein pawlowscher Hund. Wenn Pawlow die Glocke läutete, begannen die Hunde zu
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