Sie
ist das Einzige, was du niemals tun darfst!
Geoffrey hatte selbstverständlich recht gehabt -- der gute alte Geoffrey hatte fast immer recht --, aber manchmal, wenn er allein war, wurde ihm gewaltsam bewusst, wie knapp Misery dem Sensenmann entronnen war, und dann war es ihm beinahe unmöglich, die Tränen zurückzuhalten. Er liebte sie so sehr; ohne sie würde er sterben. Ohne Misery würde es schlicht und einfach kein Leben mehr für ihn und in ihm geben.
Die Geburt war lang und schwer gewesen, aber nicht länger oder schwerer als bei vielen anderen jungen Damen, hatte die Hebamme erklärt. Erst nach Mitternacht, eine Stunde nachdem Geoffrey in den heraufziehenden Sturm geritten war, um den Doktor zu holen, wurde die Hebamme besorgt. Das war, als die Blutungen angefangen hatten.
"Guter alter Geoffrey!" Dieses Mal sagte er es laut, während er in die riesige und mollig warme typisch südwestenglische Küche ging.
“Haben’se was gesagt, junger Sair?", fragte ihn Mrs. Ramage, die schrullige, aber liebenswerte Haushälterin der Carmichaels, als sie nun aus der Speisekammer kam. Wie immer saß ihr Häubchen schief auf dem Kopf, und sie roch nach dem Schnupftabak, welchen sie immer noch, nach all den Jahren, für ihr geheimes Laster hielt.
“Nicht bewusst, Mrs. Ramage", sagte Ian.
"So, wie ma’ Ihren Mantel draußen tropfen hört, sind’se zwischen den Ställen und dem Haus ja beinah ertrunken!”
"Gewiss, das bin ich beinahe”, sagte Ian und dachte: Wenn Geoffrey nur zehn Minuten später mit dem Doktor gekommen wäre, ich glaube, sie wäre gestorben. Das war ein Gedanke, den er stets mit aller Anstrengung von sich zu weisen suchte -- er war sinnlos und grausam zugleich --, aber der Gedanke an ein Leben ohne Misery war so schrecklich, dass er ihn manchmal ganz einfach nicht verdrängen konnte, wenn er sich von hinten anschlich und ihn überraschte.
Mitten hinein in seine düsteren Gedanken erscholl nun das herzhafte Quäken eines Kindes -- seines Sohnes, der nun wach und mehr als bereit für sein Nachmittagsmahl war. Ganz leise konnte er Annie Wilkes geschäftig hantieren hören, Thomas’ tüchtige Kinderschwester, die sofort begann, ihn zu beruhigen und sein Lätzchen zu wechseln.
"Der junge Stammhalter is heute bei guter Stimme", bemerkte Mrs. Ramage. Ian hatte noch einen Augenblick Zeit, sich mit unablässiger Verwunderung zu vergegenwärtigen, dass er der Vater eines Sohnes war, dann hörte er die Stimme seiner Frau von der Tür:
"Hallo, Liebling.”
Er sah auf, sah seine Misery an, sein Herzblatt. Sie stand aufrecht unter dem Türbogen; ihr kastanienbraunes Haar mit dem geheimnisvollen tiefroten Funkeln, das an sterbenden Bernstein erinnerte, fiel in prachtvoller Fülle über ihre Schultern. Ihre Gesichtsfarbe war immer noch zu blass, aber die Wangen bekamen allmählich wieder Farbe, wie Ian sehen konnte. Ihre Augen waren dunkel und tief, der Schein der Küchenlampe funkelte in jedem, winzigen und wertvollen Diamanten gleich, welche auf schwarzem Juweliersfilz blitzten.
“Mein Liebling!”, rief er aus und lief auf sie zu wie an jenem Tag in Liverpool, als ihn die Gewissheit erfüllt hatte, dass die Piraten sie entführt hatten, wie Mad Jack Wickersham ihm geschworen hatte.
Mrs. Ramage erinnerte sich plötzlich an etwas, was sie noch in der Stube zu erledigen hatte, und ließ sie beide allein -- aber sie entfernte sich mit einem Lächeln im Gesicht. Auch Mrs. Ramage hatte
Momente, da sie darüber nachdachte, wie das Leben weitergegangen wäre, wenn der Doktor und Geoffrey in jener dunklen und stürmischen Nacht vor zwei Monaten eine Stunde später gekommen wären oder wenn die riskante Bluttransfusion, bei der ihr junger Herr so tapfer sein eigenes Blut in Miserys ausgeblutete Adern gepumpt hatte, nicht funktioniert hätte.
“O mein Mädchen”, sagte sie zu sich selbst, während sie den Flur entlanghastete. "Über manche Sachen sollt man besser gar nich nachdenken.” Ein guter Rat -- ein Rat, den Ian sich auch schon selbst gegeben hatte. Aber sie hatten beide feststellen müssen, dass guter Rat sich manchmal leichter geben als befolgen ließ.
In der Küche zog Ian Misery dicht an sich, er spürte seine Seele leben und sterben und wieder leben, während er den süßen Geruch ihrer warmen Haut einatmete.
Er berührte die Rundung ihrer Brüste und spürte das starke und gleichmäßige Schlagen ihres Herzens.
“Wenn du gestorben wärst, wäre ich mit dir gestorben”, flüsterte er.
Sie
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