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Titel: Sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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von Little Dunthorpe führte, wünschte Mrs. Ramage sich, dass sie sich die Geschichten von der Exhumierung nicht so genau angehört hätte. Sie waren grässlich gewesen.
    Dr. Billford, der selbst bis an die Grenze seiner geistigen Gesundheit erschüttert gewesen war, hatte Katalepsie diagnostiziert. Die arme Frau war offenbar in eine Art todesähnliche Trance verfallen, nicht unähnlich der, in die indische Fakire sich freiwillig versetzen konnten, bevor sie zuließen, dass man sie lebendig begrub oder ihnen Nadeln ins Fleisch bohrte. In dieser Trance war sie achtundvierzig, vielleicht sechzig Stunden verblieben. Jedenfalls lange genug, dass sie nicht wieder auf dem Rasen ihres Hauses erwachte, wo sie Blumen gepflückt hatte, sondern lebendig begraben in ihrem eigenen Sarg.
    Sie hatte verbissen um ihr Leben gekämpft, dieses Mädchen, und Mrs. Ramage kam nun, während sie Geoffrey durch das Tor und in einen dünnen Nebel hinein folgte, der die emporragenden Grabsteine wie Inseln erscheinen ließ, zu der Überzeugung, dass dieser Kampf edelmütige Bewunderung verdient hätte, tatsächlich jedoch die ganze Sache nur noch grausamer machte.

    Das Mädchen war verlobt gewesen. In der linken Hand -- nicht derjenigen, die oberhalb der Erde erstarrt gewesen war wie die einer Ertrinkenden -- hatte sie den diamantenen Verlobungsring gehalten. Damit hatte sie den Satinbezug ihres Sarges aufgeschlitzt und im Verlauf von weiß Gott wie vielen Stunden den Holzdeckel des Sarges bearbeitet. Als ihr schließlich die Atemluft ausgegangen war, hatte sie den Ring offenbar in die linke Hand genommen und damit gekratzt und geschnitzt und mit der rechten hatte sie gegraben. Das alles hatte nicht ausgereicht. Ihre Gesichtsfarbe war tief purpurn gewesen, die blutunterlaufenen Augen hatten in einem Ausdruck dauerhaften Entsetzens daraus hervorgeglotzt.
    Die Uhr am Kirchturm begann, die zwölfte Stunde zu schlagen -- die Stunde, da, wie ihre Mutter ihr gesagt hatte, die Tür zwischen Leben und Tod ein wenig aufschwang und die Toten in beide Richtungen gehen konnten --, und Mrs. Ramage musste alle Beherrschung aufbringen, um nicht von Panik erfüllt wegzulaufen, die nicht nachlassen, sondern mit jedem Schritt nur stärker werden würde; wenn sie jetzt weglief, das wusste sie genau, würde sie immer weiter laufen, bis sie besinnungslos zusammenbrach.
    Dumme, furchtsame Frau!, schalt sie sich selbst, dann berichtigte sie sich: Dumme,
furchtsame, egoistische Frau! An Mylord solltest du jetzt denken, und nicht an deine eigene Angst! Mylord... und wenn die geringste Chance besteht, dass Mylady...
    Ah, aber nein, es war Wahnsinn, an so etwas auch nur zu denken. Es war zu lange her, zu lange, zu lange.
    Geoffrey hatte sie zu Miserys Grabstein geführt, und nun standen beide wie hypnotisiert da und blickten auf ihn hinab. LADY CALTHORPE stand auf dem Grabstein. Abgesehen von Geburts- und Todesdatum war lediglich noch zu lesen: VON VIELEN GELIEBT.
    Sie sah Geoffrey an und sagte wie jemand, der aus einer tiefen Trance erwacht: "Sie haben das Werkzeug nicht mitgebracht."
    "Nein -- noch nicht", sagte er und warf sich in voller Länge auf den Boden, wo er das Ohr gegen den Boden drückte, auf dem bereits die ersten zarten Grashalme aus den Ritzen zwischen den recht achtlos ausgelegten Rasenstücken sprossen.
    Einen Augenblick lang sah sie in seinem Gesicht lediglich den Ausdruck, den es schon die ganze Zeit zeigte, seit sie ihm die Tür geöffnet hatte -- einen Ausdruck gequälten Grauens. Dann aber verzerrte sich seine Miene langsam zu unaussprechlichem Entsetzen mit einem Hauch beinahe wahnsinniger Hoffnung.

    Er sah zu Mrs. Ramage auf, seine Augen waren weit aufgerissen, sein Mund bewegte sich stumm. "Ich glaube, sie lebt", flüsterte er kraftlos. "Oh, Mrs. Ramage..."
    Plötzlich warf er sich auf den Bauch und brüllte auf den Erdboden ein -- unter anderen Umständen hätte es komisch gewirkt. "Misery! MISERY! WIR SIND HIER! WIR WISSEN ALLES! HALT AUS! HALT AUS, MEIN LIEBLING!"
    Einen Augenblick später war er aufgesprungen und hastete zur Ponykutsche zurück, wo die Grabwerkzeuge lagen -seine Füße in den Pantoffeln kräuselten den Bodennebel zu aufgeregten kleinen Wirbeln.
    Mrs. Ramages Knie gaben nach, sie kippte nach vorn und war drauf und dran, wieder ohnmächtig zu werden. Ihr Kopf drehte sich scheinbar aus eigenem Antrieb nach rechts, sodass sie das Ohr auf den Boden pressen konnte -- sie hatte Kinder schon in ähnlicher Haltung auf den

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