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Titel: Sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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lächelte er ihr zu. »Aber da dies eine besondere Situation ist, werde ich Sie selbstverständlich ein Kapitel nach dem anderen lesen lassen.« Und so begannen die Tausendundeine Nacht von Paul Sheldon, dachte er. »Ich frage mich aber, ob Sie etwas für mich tun könnten?«
    »Was?«
    »Diese verflixten N nachtragen«, sagte er.
    Sie lächelte ihn strahlend an. »Das wäre mir eine Ehre. Und jetzt werde ich Sie allein lassen.«

    Sie ging zur Tür, zögerte, dann drehte sie sich um. Mit einer tiefen, fast schmerzlichen Schüchternheit machte sie ihm dann den einzigen redaktionellen Vorschlag, den sie ihm jemals machen würde: »Vielleicht war es eine Biene.«
    Er hatte den Blick bereits auf das in die Schreibmaschine eingespannte Blatt Papier gerichtet; er suchte nach dem Loch, wo er durch das Papier hindurchsehen konnte. Er wollte Misery in Mrs. Ramages Kate zurückbringen, bevor er für heute Schluss machen musste, und er sah mit sorgfältig verhohlener Ungeduld zu Annie auf. »Bitte?«
    »Eine Biene«, sagte sie, und er sah, wie Röte ihren Hals herauf und in die Wangen kroch. Kurz darauf glühten sogar ihre Ohren. »Etwa eine von einem Dutzend Personen ist allergisch gegen Bienengift. Ich habe viele solcher Fälle gesehen, bevor … bevor ich meinen Dienst als Krankenschwester aufgab. Die Allergie kann sich auf viele verschiedene Weisen auswirken. Manchmal kann ein Stich einen komatösen Zustand hervorrufen, der mit dem … mit dem vergleichbar ist, den man damals … äh … damals Katalepsie nannte.«
    Jetzt war sie so stark errötet, dass ihr Gesicht fast purpurn war.
    Paul überdachte die Idee kurz, dann warf er sie auf den Abfallhaufen. Eine Biene hätte für Miss Evelyn-Hydes unglücklichen Zustand und ihr vorzeitiges Begräbnis verantwortlich sein können; das wäre sogar denkbar, da es im Frühling geschehen war und obendrein noch im Garten. Aber er war sich bereits darüber im Klaren, dass die Glaubwürdigkeit davon abhing, dass die beiden Begräbnisse bei lebendigem Leibe irgendetwas miteinander zu tun hatten, und Misery war in ihrem Schlafzimmer den Folgen
der Geburt erlegen. Die Tatsache, dass der Spätherbst eigentlich keine Bienenzeit mehr war, war nicht das Problem. Das Problem war, wie selten diese kataleptische Reaktion auftrat. Er glaubte nicht, dass seine Dauerleserin schlucken würde, dass zwei Frauen, die nichts miteinander zu tun hatten, innerhalb von sechs Monaten als Folge von Bienenstichen lebendig begraben wurden.
    Aber das konnte er Annie nicht erzählen, nicht nur, weil sie dann vielleicht wieder die Beherrschung verlieren würde. Er konnte es ihr nicht sagen, weil es sie sehr kränken würde, und ungeachtet aller Schmerzen, die sie ihm verursacht hatte, war er der Meinung, dass er sie nicht so kränken durfte. Er war selbst schon auf diese Weise verletzt worden.
    Er griff auf die gebräuchlichste Schreibwerkstatt-Ausrede zurück: »Damit ließe sich tatsächlich etwas anfangen, Annie. Ich werde auf jeden Fall darüber nachdenken, aber ich habe auch schon ein paar Einfälle, und es passt vielleicht nicht dazu.«
    »Oh, das weiß ich - Sie sind der Schriftsteller, nicht ich. Vergessen Sie einfach, dass ich irgendetwas gesagt habe. Es tut mir leid.«
    »Es muss Ihnen nicht l…«
    Aber sie war schon verschwunden, ihre schweren Schritte rannten fast den Flur entlang zum Wohnzimmer. Er blickte auf den leeren Türrahmen. Er ließ den Blick sinken - dann riss er die Augen auf.
    Auf beiden Seiten des Türrahmens, etwa zwanzig Zentimeter über dem Boden, befanden sich schwarze Streifen - ihm war sofort klar, dass die Naben des Rollstuhls sie hinterlassen haben mussten, als er sich gewaltsam durch die
Tür gezwängt hatte. Bislang hatte sie sie noch nicht bemerkt. Es war fast eine Woche her, und dass sie bisher ihrer Aufmerksamkeit entgangen waren, war ein kleines Wunder. Aber bald - vielleicht morgen, vielleicht schon heute Nachmittag - würde sie zum Staubsaugen hereinkommen, und dann würde sie sie bemerken.
    Ganz bestimmt.
    Paul konnte an diesem Tag nicht mehr viel schreiben.
    Das Loch im Papier war verschwunden.

8
    Am folgenden Morgen saß Paul aufgerichtet im Bett, an einen Stapel Kissen gelehnt, trank eine Tasse Kaffee und betrachtete die Spuren am Türrahmen mit den schuldbewussten Augen eines Mörders, der gerade ein Stück blutigen Stoffs entdeckt hat, den er irgendwie zu beseitigen versäumt hatte. Plötzlich kam Annie mit weit aufgerissenen und hervorquellenden Augen in sein

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