Sie
Zimmer gestürmt. In der einen Hand hatte sie einen Staublappen. In der anderen - unglaublich! - ein Paar Handschellen.
»Was …«
Zu mehr kam er nicht. Sie packte ihn mit den Bärenkräften einer Person, die in Panik war, und zog ihn in eine aufrechte Haltung. Schmerzen - die schlimmsten seit Tagen - rasten durch seine Beine, und er schrie. Die Kaffeetasse fiel ihm aus der Hand und zerschellte am Boden. Immerzu zerbricht hier drinnen etwas, dachte er, und dann: Sie hat die Spuren gesehen. Natürlich. Wahrscheinlich schon vor einiger Zeit . Nur so konnte er sich dieses bizarre
Verhalten erklären - sie hatte die Spuren gesehen, und dies war der Beginn einer neuen und besonders spektakulären Bestrafung.
»Seien Sie still, Dummkopf!«, zischte sie, dann waren seine Hände auch schon hinter dem Rücken, und als er das Klicken der Handschellen vernahm, hörte er auch ein Auto, das in die Einfahrt bog.
Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen oder vielleicht noch einmal zu schreien, aber bevor er eines von beidem tun konnte, stopfte sie ihm den Staublappen in den Mund. Das Tuch hatte einen grässlichen toten Geschmack. Pledge-Möbelpolitur, vermutete er, oder Endust-Abstaubmittel oder so etwas.
»Geben Sie keinen Laut von sich«, warnte sie ihn und beugte sich über ihn, je einen Arm neben seinen Kopf gestemmt, Strähnen ihres Haars kitzelten ihn an Stirn und Wangen. »Ich warne Sie, Paul. Wenn wer immer das ist, irgendetwas hört - oder wenn ich irgendetwas höre und auch nur den Verdacht habe, dass er etwas gehört haben könnte -, werde ich ihn oder sie umbringen, dann Sie und dann mich selbst.«
Sie stand auf. Ihre Augen quollen aus den Höhlen. Schweiß stand ihr auf der Stirn, und getrocknetes Eigelb klebte an ihren Lippen.
» Vergessen Sie es nicht, Paul.«
Er nickte, aber sie sah es nicht. Sie hastete bereits wieder hinaus.
Ein alter, aber gut gepflegter Chevy Bel Air hielt hinter Annies Cherokee. Paul hörte, wie irgendwo jenseits des Wohnzimmers eine Tür aufgerissen und dann wieder zugeschlagen wurde. Sie gab dieses seltsam fragende Quietschen
von sich, das ihm verriet, dass es sich um die kleine Kammer handelte, in der sie ihre Sachen für draußen aufbewahrte.
Der Mann, der aus dem Auto ausstieg, war ebenfalls alt und gut gepflegt - ein Colorado-Typ, wie er im Buche stand. Er sah wie fünfundsechzig aus, konnte aber auch achtzig sein; er konnte der Seniorpartner einer Anwaltskanzlei sein oder der halb im Ruhestand befindliche Patriarch einer Baufirma, aber wahrscheinlich handelte es sich um einen Rancher oder Grundstücksmakler. Er dürfte ein Republikaner von der Art sein, der ebenso wenig einen Aufkleber an der Stoßstange anbrachte, wie er spitze italienische Schuhe anziehen würde; darüber hinaus war er wahrscheinlich ein Mitglied der Stadtverwaltung und in dieser Eigenschaft hier, denn nur aufgrund irgendeiner Verwaltungsangelegenheit konnten ein Mann wie er und eine Einsiedlerin wie Annie Wilkes miteinander zu tun bekommen.
Paul sah, wie sie den Gehweg zur Einfahrt hinabeilte und darauf bedacht zu sein schien, ihn nicht nur zu empfangen, sondern abzufangen. Die Situation ähnelte fast vollständig seiner früheren Fantasie. Kein Polizist, sondern jemand mit AUTORITÄT. Die AUTORITÄT war zu Annie Wilkes gekommen, und ihre Ankunft konnte nichts anderes bringen als eine Verkürzung seines eigenen Lebens.
Warum bittest du ihn nicht herein, Annie?, dachte er und bemühte sich, nicht an dem staubigen Lappen zu ersticken. Warum bittest du ihn nicht herein und zeigst ihm deinen Vogel aus Afrika?
O nein. Sie würde Mr. Rocky Mountain Businessman ebenso wenig hereinbitten, wie sie Paul zum Stapleton
International Airport, dem Flughafen von Denver, fahren und ihm ein Flugticket für die erste Klasse zurück nach New York in die Hand drücken würde.
Sie sprach auf ihn ein, noch bevor sie bei ihm war, der Atem strömte ihr aus dem Mund wie Sprechblasen in einem Comic, aber ohne Text darin. Er streckte ihr eine Hand entgegen, die in einem engen, eleganten schwarzen Lederhandschuh steckte. Sie sah sie kurz und verächtlich an, dann fuchtelte sie mit einem Finger vor seinem Gesicht herum, und es kamen noch mehr von diesen leeren Sprechblasen aus ihrem Mund. Sie mühte sich, ihren Mantel überzuziehen und hörte gerade lange genug mit dem Herumfuchteln auf, dass sie den Reißverschluss zumachen konnte.
Er griff in die Innentasche seines Mantels und holte ein Blatt Papier heraus. Er hielt es ihr
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