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Titel: Sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Geleisen gesehen, wenn sie lauschten, ob ein Zug kam.
    Und jetzt hörte sie es -- leise, schmerzhafte Kratzlaute im Erdreich -- das waren nicht die Geräusche, die ein grabendes Tier erzeugt: Es waren die Laute von Fingern, die hilflos auf Holz kratzten.
    Sie sog mit einem einzigen heftigen Zug Atemluft ein, damit ihr Herzschlag wieder einsetzte, wie es ihr schien. Sie kreischte: "WIR KOMMEN, MYLADY! GELOBT SEI GOTT UND
UNSER HEILAND JESUS CHRISTUS, WIR SIND NOCH RECHTZEITIG GEKOMMEN -- WIR KOMMEN!"
    Sie begann mit zitternden Fingern, halb angewachsene Rasenstücke aus dem Boden herauszuziehen, und wenngleich Geoffrey nach kürzester Zeit zurück war, hatte sie bis dahin bereits ein fast zwanzig Zentimeter tiefes Loch gegraben.

7
    Er hatte bereits neun Seiten von Kapitel 7 fertig - Geoffrey und Mrs. Ramage hatten Misery gerade noch rechtzeitig aus ihrem Grab befreit, um dann feststellen zu müssen, dass die Frau keine Ahnung hatte, wer sie waren und wer sie selbst war -, als Annie ins Zimmer kam. Dieses Mal hörte Paul sie. Er hörte auf zu tippen und verspürte Bedauern, weil er aus seinem Traum gerissen worden war.
    Sie hielt die ersten sechs Kapitel seitlich neben ihrem Rock. Sie hatte weniger als zwanzig Minuten gebraucht, um seinen ersten Anlauf zu lesen; es war eine Stunde her, seit sie den Stapel der einundzwanzig Manuskriptseiten mitgenommen hatte. Er sah sie gelassen an und stellte mit gelindem Interesse fest, dass Annie Wilkes ein wenig blass war.
    »Nun?«, fragte er. »Ist es fair?«
    »Ja«, sagte sie geistesabwesend, als wäre dies bereits ausgemachte Sache - und Paul vermutete, dass es das auch tatsächlich war. »Es ist fair. Und es ist gut . Spannend. Aber es ist auch grausam! Es ist überhaupt nicht wie die anderen Misery -Bücher. Diese arme Frau, die sich ihre Fingerkuppen
wegkratzte …« Sie schüttelte den Kopf und wiederholte: »Es ist überhaupt nicht wie die anderen Misery -Bücher.«
    Der Mann, der diese Zeilen geschrieben hat, befindet sich auch in einer grausamen Gemütsverfassung, meine Liebe, dachte Paul.
    »Soll ich weitermachen?«, fragte er.
    »Ich werde Sie umbringen, wenn Sie es nicht tun!«, antwortete sie und lächelte ein wenig. Paul erwiderte das Lächeln nicht. Diese Bemerkung, die er einst in die lange Reihe von Banalitäten wie etwa Du siehst heute so gut aus, dass ich dich auffressen könnte eingereiht hätte, schien ihm mit einem Mal gar nicht mehr banal zu sein.
    Aber etwas an ihrer Haltung, mit der sie so in der Tür stand, faszinierte ihn. Es war, als fürchtete sie sich, näher zu kommen - als glaubte sie, etwas in ihm könnte sie verbrennen. Nicht das Thema, lebendig begraben zu werden, war der Grund dafür, und er war klug genug, das einzusehen. Nein - es war der Unterschied zwischen seinem ersten Versuch und diesem hier. Der erste war nicht packender gewesen als der Aufsatz eines Achtklässlers zum Thema: »Was ich in den Sommerferien erlebt habe«. Dieser nun war anders. Der Ofen war entzündet worden. Oh, nicht dass er besonders gut geschrieben hätte - die Story war brandheiß, aber die Personen waren so stereotyp und vorhersehbar wie immer -, aber dieses Mal war es ihm immerhin gelungen, wenigstens ein bisschen Energie zu erzeugen; dieses Mal strahlte Hitze zwischen den Zeilen ab.
    Amüsiert dachte er: Sie hat diese Hitze gespürt. Sie hat Angst, zu nahe heranzukommen, weil sie fürchtet, ich könnte sie verbrennen.

    »Nun«, sagte er nachsichtig, »Sie werden mich nicht umbringen müssen, Annie. Ich möchte weiterschreiben. Warum lassen Sie mich nicht gleich weitermachen?«
    »Einverstanden«, sagte sie. Sie brachte ihm die Seiten, legte sie auf das Brett und trat rasch wieder zurück.
    »Würden Sie es gern Stück für Stück lesen, während ich schreibe?«, fragte er.
    Annie lächelte. »Ja! Das wäre fast wie die Serials, als ich ein Kind war!«
    »Nun, ich kann nicht am Ende jedes Kapitels einen Cliffhanger versprechen«, sagte er. »Das funktioniert einfach nicht.«
    »Für mich schon«, sagte sie aufgeregt. »Ich würde wissen wollen, was in Kapitel 18 geschieht, auch wenn Misery und Ian und Geoffrey am Ende von Kapitel 17 in Sesseln auf der Veranda sitzen und Zeitung lesen würden. Ich bin schon ganz verrückt danach zu erfahren, wie es weitergehen wird - sagen Sie es mir nicht!«, fügte sie scharf hinzu, als hätte Paul angeboten, das zu tun.
    »Nun, normalerweise zeige ich niemandem, woran ich arbeite, bis alles fertig ist«, sagte er, dann

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