Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Sie

Titel: Sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
die Schmerzen unerträglich - ihm war zumute, als wären ihm mit einem Mal ein Dutzend Nägel in den Knochen geschlagen worden. Er schrie, griff nach dem Kopfteil und zog sich daran sicher ins Bett, wobei er sein schmerzendes Bein nachzog.
    Jetzt wird sie bestimmt kommen, dachte er wirr. Sie wird wissen wollen, ob sich Sheldon tatsächlich in Luciano Pavarotti verwandelt hat oder ob es sich nur so anhört.
    Aber sie kam nicht, und es war ihm unmöglich, die schrecklichen Schmerzen in seinem linken Bein zu ertragen. Er rollte sich unbeholfen auf den Bauch, schob einen Arm tief unter die Matratze und holte eine der Novrilproben heraus. Er schluckte zwei Kapseln trocken, dann schwebte er für eine Weile davon.
    Als er wieder zu sich kam, glaubte er zuerst, er würde träumen.

    Es war zu surreal, wie in jener Nacht, als sie den Grill hereingerollt hatte. Annie saß auf der Bettkante. Sie hatte ein mit Novrilkapseln gefülltes Wasserglas auf den Nachttisch gestellt. In der anderen Hand hielt sie eine Rattenfalle Marke Victor. Und es war eine Ratte darin - eine ziemlich große mit struppigem braunem Fell. Die Falle hatte der Ratte das Rückgrat gebrochen. Ihre Hinterbeine hingen über den Rand der Falle herunter und zuckten gelegentlich. Blutstropfen hingen an den Schnurrhaaren.
    Dies war kein Traum. Nur ein weiterer Tag mit Annie allein im Gruselkabinett.
    Ihr Atem roch wie eine Leiche, die in verfaultem Essen verwest.
    »Annie?« Er richtete sich auf und ließ den Blick zwischen ihr und der Ratte hin und her wandern. Draußen war die Dämmerung hereingebrochen - eine seltsam blaue, regenverhangene Dämmerung. Regen prasselte ans Fenster. Heftige Windböen schüttelten das Haus und ließen es ächzen.
    Was immer an diesem Morgen nicht mit ihr gestimmt hatte, heute Abend war es schlimmer. Viel schlimmer. Ihm wurde klar, dass er sie endlich ohne alle ihre Masken sah - dies war die wahre Annie, die Annie tief im Innersten. Das Fleisch ihres Gesichts, das bislang so undurchdringlich und massiv ausgesehen hatte, hing nun wie lebloser Teig herab. Ihre Augen waren leer. Sie hatte sich angezogen, aber der Rock war verkehrt herum. Auf ihrer Haut waren weitere Striemen zu sehen, noch mehr Essensreste auf der Kleidung. Wenn sie sich bewegte, verströmte sie so viele verschiedene Gerüche, dass Paul sie nicht zählen konnte. Fast ein ganzer Ärmel ihres Strickpullovers war mit einer
halb angetrockneten Substanz vollgesogen, die nach Bratensoße roch.
    Sie hielt die Falle hoch. »Wenn es regnet, kommen sie in den Keller.« Die gefangene Ratte piepste kraftlos und schnappte nach Luft. Ihre schwarzen Augen, die unendlich viel mehr Leben enthielten als die der Frau, die sie gefangen hatte, rollten in den Höhlen. »Ich stelle Fallen auf. Das muss ich. Ich reibe die Trittbretter mit Schinkenspeck ein. Ich fange immer acht oder neun. Manchmal finde ich andere …«
    Dann schaltete sie ab. Schaltete fast drei Minuten lang ab, während sie die Ratte in der Luft hielt, ein perfekter Fall wächserner Katatonie. Paul starrte sie an, starrte die piepsende und zuckende Ratte an und wurde sich bewusst, dass er tatsächlich gedacht hatte, es könnte nicht mehr schlimmer werden. Falsch. Verdammt falsch.
    Endlich, als er schon anfing zu glauben, sie wäre ohne Pauken und Trompeten ins Nirwana entschwunden, ließ sie die Falle sinken und fuhr fort, als hätte sie nie aufgehört zu reden.
    »… die ertrunken in den Ecken liegen. Arme Geschöpfe.«
    Sie betrachtete die Ratte, und eine Träne fiel auf deren mattes Fell.
    »Arme, arme Geschöpfe.«
    Sie schloss eine ihrer kräftigen Hände um die Ratte und zog mit der anderen die Feder zurück. Sie zuckte in ihrer Hand und drehte den Kopf in dem Versuch, sie zu beißen. Ihr Fiepen war dünn und schrecklich. Paul presste den Handballen auf seinen zusammenzuckenden Mund.
    »Wie ihr Herz schlägt. Wie sie sich abmüht zu entkommen! Genau wie wir, Paul. Genau wie wir. Wir denken,
wir wissen so viel, aber in Wirklichkeit wissen wir nicht mehr als eine Ratte in der Falle - eine Ratte mit gebrochenem Rücken, die denkt, dass sie immer noch leben will.«
    Die Hand, welche die Ratte hielt, wurde zur Faust. Ihre Augen verloren zu keinem Zeitpunkt diesen leeren, abwesenden Ausdruck. Paul wollte den Blick abwenden und konnte es nicht. Die Sehnen auf der Innenseite ihres Armes traten hervor. Unvermittelt rann ein dünner Blutstrom aus dem Maul der Ratte. Paul hörte, wie ihre Knochen brachen, dann bohrten sich die

Weitere Kostenlose Bücher