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Titel: Sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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auf die Juden gekommen, die während der ungemütlichen vier oder fünf Jahre, bevor die Wehrmacht in Polen einmarschierte und der Tanz wirklich begann, in Deutschland gelebt hatten. Paul erinnerte sich, er hatte Bernstein, der eine Tante und einen Großvater im Holocaust verloren hatte, gesagt, er verstünde nicht, warum die Juden in Deutschland - verdammt, eigentlich in ganz Europa, aber besonders in Deutschland - sich nicht aus dem Staub gemacht hatten, solange noch Zeit dazu gewesen war. Im Großen und Ganzen waren sie keine dummen Leute, viele kannten solche Judenverfolgungen aus erster Hand. Sie hatten doch sicherlich gesehen, was auf sie zukam. Warum also waren sie geblieben?
    Bernsteins Antwort war ihm frivol und grausam und unverständlich erschienen: Die meisten besaßen ein Klavier. Wir Juden hängen sehr am Klavier. Wenn man ein Klavier besitzt, ist es schwerer, an einen Umzug zu denken.
    Jetzt verstand er das. Ja. Zuerst waren es seine gebrochenen Beine und das zerdrückte Becken gewesen. Dann hatte ihn, Gott helfe ihm, das Buch gepackt. Auf eine verrückte Weise hatte er sogar Spaß daran. Es wäre leicht - zu leicht -, alle Schuld auf die gebrochenen Beine oder die Drogen zu schieben, doch in Wirklichkeit war das Buch zu einem Großteil schuld daran. Das und das träge Verrinnen der Tage seiner Genesung mit ihrem gleichförmigen Ablauf. Diese Dinge - aber allen voran das gottverdammte Buch - waren sein Klavier gewesen. Was würde sie tun,
wenn sie von ihrem Lachplatz zurückkam und feststellte, dass er fort war? Das Manuskript verbrennen?
    »Mir scheißegal«, sagte er, und das war fast die Wahrheit. Wenn er überlebte, dann konnte er ein neues Buch schreiben - konnte sogar dieses rekonstruieren, wenn er wollte. Aber ein Toter konnte ebenso wenig ein Buch schreiben, wie er ein neues Klavier kaufen konnte.
    Er rollte ins Wohnzimmer. Beim ersten Mal war es sauber und ordentlich gewesen, aber jetzt standen überall schmutzige Schüsseln, auf jeder freien Fläche; Paul hatte den Eindruck, als müsste jede Schüssel im ganzen Haushalt hier zu finden sein. Annie schlug und kniff sich offensichtlich nicht nur, wenn sie Depressionen hatte. Es sah so aus, als würde sie auch ordentlich futtern und keine Gedanken ans Aufräumen verschwenden. Er erinnerte sich vage an den stinkenden Atem, der in ihn hineingeblasen worden war, als er sich in der Wolke befunden hatte, und er spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. Die meisten Überreste stammten von irgendwelchen Süßigkeiten. In vielen der Schüsseln und Teller trocknete Eis oder war bereits getrocknet. Auf den Tellern befanden sich Krümel oder Tortenreste. Auf dem Fernseher stand Zitronengötterspeise mit eingetrockneter Schlagsahne, daneben eine Zwei-Liter-Flasche Pepsi und eine Sauciere. Die Pepsiflasche sah fast so gewaltig aus wie der Bug einer Titan-II-Rakete. Ihre Oberfläche war trüb und verschmiert, fast milchig. Er vermutete, dass sie direkt daraus getrunken hatte und ihre Finger mit Eis oder Soße verschmiert gewesen waren. Er hatte kein Besteck klirren gehört, das war nicht überraschend, denn es war keines da. Schüsseln und Teller, aber kein Besteck. Auf dem Teppich und dem Sofa
sah er angetrocknete Tropfen und Flecken - wiederum hauptsächlich Eis.
    Das war es also, was ich auf ihrem Morgenmantel gesehen habe. Das Zeug, das sie gegessen hat. Und danach roch ihr Atem. Sein Bildnis von Annie als Piltdown-Frau fiel ihm wieder ein. Er sah sie dasitzen und Eis in den Mund schaufeln oder vielleicht Hände voll halb erstarrter Hähnchensoße und literweise Pepsi als Nachtisch; sie aß und trank einfach, in tiefer depressiver Benommenheit.
    Der Pinguin auf seinem Eisblock stand noch immer auf dem Nippestischchen, aber viele der anderen Keramikfiguren hatte sie in eine Ecke geworfen, wo ihre zerschellten Überreste lagen - scharfkantige, eckige Scherben.
    Er sah wieder ihre Finger vor sich, wie sie den Körper der Ratte zerquetschten. Die roten Spuren, die ihre Finger auf dem Laken hinterlassen hatten. Er sah wieder und wieder, wie sie sich abwesend das Blut von den Fingern leckte, genauso abwesend, wie sie hier Eis und Götterspeise und weiche, schwarze Biskuitrollen gegessen haben musste. Diese Vorstellungen waren grässlich, aber sie waren ein wunderbarer Ansporn zur Eile.
    Der Strauß Trockenblumen auf dem Tisch war umgekippt; unter dem Tisch lag, gerade noch zu sehen, eine Schüssel mit verkrustetem Vanillepudding und ein großes Buch. STRASSE DER

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