Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Sie

Titel: Sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
und Feigheit. Glücklicherweise oder unglücklicherweise hatte er nicht die Krücke der Geisteskrankheit, auf die er sich lehnen konnte.
    »Danke«, sagte er, »aber ich möchte vollenden, was ich begonnen habe.«
    Sie seufzte und stand auf. »Also gut. Ich vermute, ich muss das gewusst haben, denn wie ich sehe, habe ich Ihnen Tabletten mitgebracht, wenngleich ich mich nicht daran erinnern kann.« Sie lachte - ein kurzes, irres Kichern, das aus dem erschlafften Gesicht zu kommen schien, als hätte ein Bauchredner den Laut verursacht. »Ich muss eine Weile weggehen. Wenn ich es nicht tue, wird es einerlei sein, was Sie oder ich wollen. Weil ich dann Dinge tue. Ich habe einen Ort, wo ich hingehe, wenn mir so zumute ist. Ein Ort in den Bergen. Haben Sie je die Onkel-Remus-Geschichten gelesen, Paul?«
    Er nickte.
    »Erinnern Sie sich, wie Meister Lampe dem Fuchs Patzig von seinem Lachplatz erzählt?«
    »Ja.«
    »So nenne ich meinen Platz oben in den Bergen. Meinen Lachplatz. Erinnern Sie sich, wie ich sagte, ich wäre von Sidewinder zurückgekommen, als ich Sie gefunden habe?«
    Er nickte.
    »Nun, das war eine Lüge. Ich habe geschwindelt, weil ich Sie nicht kannte. In Wahrheit kam ich von meinem
Lachplatz zurück. Dort hängt ein Schild über der Tür, auf dem steht genau das. ANNIES LACHPLATZ steht darauf. Manchmal lache ich wirklich , wenn ich dort bin.
    Aber meistens schreie ich einfach nur.«
    »Wie lange werden Sie fort sein, Annie?«
    Sie schritt verträumt zur Tür. »Kann ich nicht sagen. Ich habe Ihnen Tabletten gebracht. Ihnen wird es gut gehen. Nehmen Sie zwei alle sechs Stunden. Oder sechs alle vier Stunden. Oder alle auf einmal.«
    Aber was soll ich essen?, wollte er sie fragen, tat es aber nicht. Er wollte nicht, dass sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihm zuwandte - überhaupt nicht. Er wollte, dass sie verschwand. Hier mit ihr zusammen zu sein war, als befände er sich in der Gegenwart des Todesengels.
    Er lag lange Zeit starr und steif im Bett und lauschte ihren Bewegungen, erst im Obergeschoss, dann auf der Treppe, dann in der Küche, und die ganze Zeit rechnete er damit, dass sie es sich doch noch anders überlegen und mit dem Gewehr zurückkommen würde. Er entspannte sich nicht einmal, als er hörte, wie die Seitentür zugeschlagen und abgeschlossen wurde, gefolgt von platschenden Schritten draußen. Sie konnte das Gewehr ebenso gut im Cherokee liegen haben.
    Der Motor von Old Bessie keuchte, sprang schließlich an. Annie gab Gas und ließ den Motor aufheulen. Die Scheinwerfer wurden eingeschaltet, ihre Lichtkegel erhellten einen silbernen Vorhang aus Regen. Die Lichter verschwanden die Zufahrt hinunter. Sie schwangen herum, wurden schwächer, dann war Annie verschwunden. Dieses Mal fuhr sie nicht bergab in Richtung Sidewinder, sondern in die andere Richtung, ins Hochland.

    »Sie fährt zu ihrem Lachplatz«, krächzte Paul und begann selbst zu lachen. Sie hatte ihren; er war bereits an seinem. Sein ungestümer Heiterkeitsausbruch endete abrupt, als sein Blick auf den zerquetschten Kadaver der Ratte in der Ecke fiel.
    Ein Gedanke kam ihm.
    »Wer sagt denn, dass sie mir nichts zu essen dagelassen hat?«, fragte er das Zimmer, und dann fing er an, noch heftiger zu lachen. In dem leeren Haus hörte sich Paul Sheldons Lachen an wie das eines Irren in der Gummizelle.

16
    Zwei Stunden später öffnete Paul erneut das Schloss der Schlafzimmertür und zwängte den Rollstuhl zum zweiten Mal durch die Tür, die fast zu schmal war. Zum letzten Mal, hoffte er. Er hatte ein paar Decken auf dem Schoß. Alle Tabletten, die er unter der Matratze versteckt hatte, trug er in ein Kleenex eingewickelt in der Unterhose.
    Er wollte hinaus, wenn er irgend konnte, Regen oder nicht; dies war seine Chance, und dieses Mal wollte er sie nutzen. Sidewinder lag bergab, die Straße würde glatt und rutschig vom Regen sein, und es war dunkler als in einem Kohleschacht; dennoch wollte er es versuchen. Er hatte nicht das Leben eines Helden oder Heiligen geführt, aber er hatte nicht vor, wie ein exotischer Vogel im Zoo zu sterben.
    Er erinnerte sich vage an einen Abend, den er Scotch trinkend mit einem schwermütigen Theaterautor namens Bernstein im Lion’s Head unten in Greenwich Village verbracht
hatte (und wenn er das Village jemals wiedersehen sollte, dann nahm er sich vor, auf das niederzusinken, was von seinen Knien noch übrig war, und den schmutzigen Gehweg der Christopher Street zu küssen). Die Unterhaltung war schließlich

Weitere Kostenlose Bücher