Sieben
Ich würde sagen, das ist es.« Doyle fühlte sich zu seiner Überraschung äußerst ruhig.
Ein schwebender Gedanke flog wie der Schatten eines Taubenschwarms über die Glätte ihres Gesichts. Sie legte die Bürste sorgsam auf den Tisch und drehte sich, um ihn anzusehen.
»Was, wenn es stimmt?«
»Tja«, sagte Doyle, »dann müßte ich sagen: Wenn sich wirklich erweist, daß dies der letzte Abend unseres Lebens ist und ich mich, aus welchem Grund auch immer, deinem Charme widersetzen würde, es gewiß das sinnloseste Bedauern zur Folge hätte, das mich später ins Grab begleiten würde.«
Sie schauten einander offen in die Augen.
»Dann solltest du vielleicht die Tür abschließen, Arthur«, sagte sie einfach, ohne den geringsten theatralischen Unterton in ihrer Stimme.
Und er tat, worum sie gebeten hatte.
Mutters Hausgemachte
DOYLE VERLIESS DAS Schlafzimmer vor dem ersten Lichtstrahl. Eileen schlief noch. Bevor er aufgestanden war, hatte er sanft ihren auf seiner Schulter ruhenden Arm angehoben und ihren lieblichen Nacken geküßt. Als er sich anzog, murmelte sie leise etwas vor sich hin, aber wahrscheinlich war es nur die Reaktion auf einen Traum. Sie rührte sich nicht noch einmal.
Doyle war überrascht, daß er innerlich keine Scham empfand. Immerhin, eine katholisch bedingte Reaktion auf Freuden aller Art - von den fleischlichen ganz zu schweigen - war nie ganz ausgerottet worden. Vielleicht würde dieses Mal die Ausnahme bleiben. Sie hat es gewollt, sagte er sich - und damit ich's nicht vergesse, ich natürlich auch. Oft genug hatte er erlebt, wie Chirurgen in der Umgebung von Toten und Sterbenden auf ähnliche Weise den Drang verspürten, sich rückzuversichern, daß sie selbst noch lebten. Was bedeutete dies im Hinblick auf eine andauernde Beziehung zu ihr? Keine Ahnung. Nachdem das körperliche Verlangen des Augenblicks befriedigt war, verlangte es ihn mit fast ebensolcher Dringlichkeit danach, einen kleinen Schritt zurückzutreten, um die Auswirkungen auf seine Gefühle zu beurteilen.
Doyle schloß leise die Tür und steckte den Schlüssel ein. Er schaute auf die Uhr. Es war fast fünf. Er wollte Sparks allerhöchstens bis neun Uhr Zeit zur Rückkehr geben; weit über das Morgengrauen hinaus, vielleicht auch länger, auch wenn er dessen Anweisungen damit klar sabotierte. Er ging hinunter, um nachzuschauen, ob er eine Tasse Tee auftreiben konnte.
In der Küche war niemand, im Parterre war nicht der geringste Laut zu vernehmen. Die Herberge war ruhig und still und verbreitete genau die Atmosphäre, die man vor dem ersten Tageslicht erwartete. Die Dielenbretter ächzten bedeutungsschwanger. Als er aus dem Fenster schaute, stellte er fest, daß die Wolken sich gehoben hatten. Wenn der Morgen kam, würde er hell, klar und kalt sein.
Sie war süß und nachgiebig gewesen, und - ja, auch erfahren. Zweifellos erfahrener als er, was eine noch größere Verlockung war, schlechte Gefühle zu entwickeln, die er aber resolut von sich wies. Es hatte ihn am meisten bewegt - und es bewegte ihn auch jetzt noch -, wie real, greifbar und faßbar sie ihm in jener Stunde erschienen war. Wie
nah.
Keine List oder Schranke zwischen ihm und der unmittelbaren Erfahrung dessen, wer sie war. Einmal hatte sie leise geweint und sich die Tränen abgewischt, doch ihre Berührungen und Bewegungen hatten ihm signalisiert, nicht darauf zu achten, hatten ihn gebeten, nicht aufzuhören. Er hatte sich gefügt. Was empfand er jetzt? Sein Wissen darum entglitt. Warum humpelten seine Gefühle nur immer so aufreizend langsam hinter seiner Einsichtsfähigkeit hinterher?
Doyle empfand leichten Schwindel. Er öffnete die Tür und trat auf den von Mauern umgebenen Hof hinter der Gaststube hinaus. Schnee lag auf den Ziegeln, die eine knorrige, kahle Eiche umsäumten. Die Kälte drang durch sein Hemd, doch sie fühlte sich rein und erfrischend an. Er sog die Luft tief und gierig ein und versuchte, seine Lunge über die Grenzen ihrer Aufnahmefähigkeit hinaus zu füllen.
»Frische Luft ist ein wahres Tonikum«, sagte eine Stimme hinter ihm. Eine Stimme, die er erst kürzlich woanders vernommen hatte.
Alexander Sparks stand im Schutz der Eiche. Er war in einen schwarzen Umhang gehüllt und rührte sich nicht. Seine Hände waren nicht zu sehen. In dem fahlen Licht, das aus den Fenstern drang, konnte man nur sein Gesicht erkennen. Es war lang und schmal, im Aufbau so wie das seines Bruders - doch da endete die Ähnlichkeit auch schon. Er sah
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