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Sieben

Sieben

Titel: Sieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Frost
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nach England unterwegs.«
    »Er hat sie nicht umgebracht«, sagte Doyle überrascht und erleichtert.
    »Nein. Er hat sie auch nicht geschlagen, als er befriedigt war, wie das andere Mädchen. Ich glaube, die Gefühle, die er für sie hegte, waren komplizierter persönlicher als alle zuvor erlebten. Da sich die widerstreitenden Seiten seines Charakters in einer Sackgasse befanden, hatte der räuberische Impuls nicht gesiegt. Nach der Rückkehr schrieb er mir sofort von seiner ›Sommerromanze‹. Als ich etwas erwiderte, das, wie ich annehme, Skepsis ausdrückte in Wirklichkeit war es Ahnungslosigkeit, denn abgesehen von dem, was er mir erzählt hatte, wußte ich noch nicht, was Männer und Frauen miteinander machen -, schickte er mir als Beweis eine ihrer Haarlocken.«
    »Er hat stets versucht, Sie als Komplizen zu gewinnen.«
    »Doch so wenig ich auch wußte, als ich die blonde Locke in Händen hielt - ich empfand über die wahre Natur meines Bruders das erste Frösteln einer bösen Ahnung. Sein Geschenk strahlte etwas Unangenehmes aus - es besaß eine kaum wahrnehmbare Aura aus Leid. Ich spürte, daß etwas
nicht stimmte.
Ich schaffte die Locke sofort beiseite, indem ich sie in den Bach warf, der neben meiner alten Eiche herfloß. Ich habe Alexander eine Woche lang nicht geschrieben. In seinem nächsten Brief hat er das Mädchen weder erwähnt noch irgendein Mißfallen über das Fehlen meiner Reaktion zum Ausdruck gebracht. Er überging es einfach. Ich begrub mein Unbehagen dankbar wie einen Fehltritt. Unsere Korrespondenz ging weiter.«
    Die Kellner im Speisesaal drehten die Gasdüsen herunter. In einem anderen Raum spielte nun ein kleines Orchester einen Walzer von Strauß. Stattliche Paare gingen auf die Tanzfläche. Die im Raum vorherrschende gute Laune und die umherwirbelnden Tänzer fanden keinen Zugang zum Kern von Sparks' privater Bürde. Er schaute in sein Glas, sein Gesicht war abgespannt, sein Blick beklommen und fiebrig.
    »Und so machten wir weiter. Schrieben uns. Der jährliche Osterbesuch. Die einzige Unterbrechung unseres Gedankenaustausches trat ein, wenn ich mit meinen Eltern nach Europa fuhr. Doch selbst dann wartete nach meiner Rückkehr ständig ein Stapel Briefe auf mich. Alexander und ich waren absolut ehrlich zueinander. Er wollte immer wissen, um wieviel ich gewachsen war und welche Fortschritte ich machte. Er hat die Grenzen, die unsere Eltern so wachsam aufrechterhielten, nie überschritten. Er zeigte nie etwas anderes als liebevolles Interesse für meine Entwicklung. Das nahm ich jedenfalls an. Jetzt ist mir klar, daß er meine Fortschritte mit den peinlich genauen Aufzeichnungen verglich, die er über sich selbst anfertigte - wie bei einer Ratte in einem Laborexperiment -, um zu sehen, ob seine Methoden zur Entwicklung des Übermenschen nachprüfbar seien. Und nicht zuletzt, um sich zu versichern, daß das Ausmaß meiner Entwicklung ein gutes Stück hinter der seinen zurückblieb, denn der Schüler darf den Lehrer natürlich um keinen Preis übertreffen.
    Als er das letzte Schuljahr vor der Universität absolvierte und ich mich dem Alter und beinahe auch den Dimensionen annäherte, in dem er bei unserem Kennenlernen gewesen war, endeten seine Briefe schlagartig und ohne Vorwarnung. Ich schrieb ihm mehrmals und wurde immer verzweifelter. Keine Antwort. Und was noch schlimmer war: keine Erklärung. Ich kam mir wie amputiert vor. Ich habe ihm wieder und wieder geschrieben und ihn angefleht, mir doch zu antworten, welchen Fauxpas ich, ohne es zu wissen, begangen hatte. Warum er mich aufgegeben hatte.«
    »Seine Arbeit an Ihnen war beendet.«
    »Nein. Es war seine Absicht, mich zu schockieren, indem er demonstrierte, wie schnell er mir seine Gunst entziehen konnte. Um die Saat des Entsetzens in mich einzupflanzen, die seinen Griff enger und mich noch abhängiger von ihm machte. Vier Monate vergingen. In meiner Fantasie hatte ich tausend schicksalsträchtige Szenarien ablaufen lassen, bis ich schließlich in die Lage versetzt wurde, mich von der Verantwortung freizusprechen: Ich kam zu dem Schluß, daß meine Eltern dahinterstecken mußten. Sie hatten unsere Verbindung entdeckt und entschiedene Schritte gegen uns eingeleitet. Sie hatten Alexander fortgeschickt; irgendwohin, wo ich ihn nicht erreichen konnte; unter Quarantäne gestellt. Vielleicht waren sie wirklich so unaufrichtig und rachsüchtig, wie seine Briefe im letzten Jahr unterschwellig angedeutet hatten. Ihr absolut gleichbleibendes

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