Sieben
wohlhabende Angehörige der oberen Mittelklasse - meldeten, sie hätten bei abendlichen Spaziergängen das Gefühl gehabt, verfolgt zu werden. Manche glaubten, jemand spähe am Abend in ihre Schlafzimmer hinein. Keine sah je ein Gesicht, und nur ganz selten erblickten sie eine finstere, ganz in Schwarz gekleidete Gestalt. Einen Mann; einen großen Mann, darin waren sich alle einig. Er hielt jedoch Distanz, näherte sich ihnen nie, stellte niemals eine direkte Bedrohung dar, doch das Gefühl der Bedrohung, die von ihm ausging, war dennoch beträchtlich.
Eines Abends wachte eine dieser jungen Frauen auf und sah, daß die Gestalt vor ihrem Bett stand. Sie war vor Angst wie gelähmt und unfähig, einen Schrei auszustoßen. Der nächtliche Besucher floh lautlos durch das offene Fenster. Dieser Zwischenfall reichte aus, um die örtliche Polizei zu einer raschen gemeinsamen Aktion schreiten zu lassen. Man verbot den jungen Frauen, abends allein spazierenzugehen. Die Vorhänge wurden zugezogen, die Fenster verschlossen. Dort, wo die Gestalt gesehen worden war, zogen Patrouillen auf. Dies schien Wirkung zu zeigen; die Vorgänge fanden ein abruptes Ende und wiederholten sich auch im Laufe des Winters nicht mehr. Als der Frühling kam, wurde man der Sondermaßnahmen, die man Monate zuvor ergriffen hatte, müde. Man riß die Fenster aufffum frische Luft zu haben, und nahm die abendlichen Spaziergänge unter Sicherheitsvorkehrungen wieder auf.
Bis dann eines Abends, Anfang April, die hübscheste junge Frau des Ortes am Flußufer überfallen und sexuell mißbraucht wurde. Nachdem der Angreifer sich an ihr befriedigt hatte, überkam ihn ein Wutanfall, und er schlug sein Opfer brutal zusammen. Sie hat sein Gesicht nie gesehen. Er hat kein Wort gesprochen und nie ein Geräusch gemacht. Sie konnte ihn nur als ›schwarzen Umriß‹beschreiben.«
»Hat man Alexander verdächtigt?«
»Im Zuge der Ermittlungen haben die städtischen Beamten routinemäßig auch den Lehrkörper von Alexanders Schule verhört, obwohl man sicher war, daß der Täter aufgrund seiner Größe und Stärke ein erwachsener Mann sein mußte. Wahrscheinlich der gleiche, den man im vergangenen Frühjahr gesehen hatte. Nach Einbruch der Dunkelheit wurden auch die Schüler einbezogen. Und alle schworen, sie seien zur Tatzeit im Bett gewesen.«
»Das kann man leicht arrangieren. Es war natürlich Ihr Bruder.«
Sparks nickte. »Sein Interesse am schönen Geschlecht regte sich, und er mußte den neuen Hunger stillen. Alexander hatte sich nur selten gezwungen, seinen Appetit zu zügeln, und wenn doch, dann nur als Übung in Selbstdisziplin. Für die tastenden Zusammenkünfte mit Anstandswauwaus, die Schule und Gesellschaft als Riten der Werbung anboten, hatte er nur Hohn übrig. Er lauerte den Mädchen auf, schlug ohne zu zögern und ohne schlechtes Gewissen zu. Moralische Vorbehalte über solche Untaten fielen völlig aus dem Rahmen seiner Philosophie. Derlei Bedenken waren, wie er mir schrieb, ein kindischer Schutz für Schwache und Unentschlossene. Die meisten Menschen lebten der Überzeugung gemäß, daß Jersey-Kühe für den Schlachthof gezüchtet werden. Der Übermensch nehme sich nun einmal das, was er von der Welt haben wolle - und oftmals sei die Welt nur allzu bereit, genau das zu honorieren, ohne auch nur einen Gedanken an die Konsequenzen zu verschwenden.«
»Es sei denn, man wird erwischt.«
»Dafür waren die Chancen, wie er es sah, so gering, daß sie keines Gedanken wert waren. Er war höchst zuversichtlich, was seine Fähigkeit, allen anderen weit voraus zu sein, anbetraf. Der Überfall fand übrigens zwei Tage vor unserer Begegnung statt. Der polierte schwarze Stein, den er mir schenkte, stammte geradewegs aus dem Flußbett, in dem er das Mädchen vergewaltigt hatte: seine Eroberungstrophäe.«
Doyle schluckte eine Woge des Abscheus hinunter. »Man muß doch während Ihres Besuches dort über die Vergewaltigung gesprochen haben. Haben Ihre Eltern die Sache mit ihm in Verbindung gebracht?«
»Trotz ihrer Erfahrungen mit ihm - die, wie Sie wissen, nur in einem entsetzlichen Verdacht, aber in keinem Beweis gipfelten - glaube ich nicht, daß meine Eltern damals schon über die einzigartige Bösartigkeit von Alexanders Verstand im Bilde waren.«
Damals.
Doyle fiel auf, wie er das Wort betonte.
»Das marktschreierisch angekündigte Absuchen des Landstriches nach dem Täter erbrachte natürlich nichts. Es war ein Verbrechen aus kalter Berechnung
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