Sieben Erzaehlungen
innerhalb des Textes, indem durch eine Temposteigerung an irgendeinem Punkt der reale Rahmen zerplatzt. Dies ist der für Buzzatis Texte so charakteristische Moment, in dem das Vertraute zu wanken und etwas Unfaßbares sich langsam zu präzisieren beginnt, das die Ereignisse in einen außerhalb der Vernunft liegenden Raum enthebt.
Dieser Übergang von Realität in Irrealität innerhalb literarischer Texte ist ein wichtiges Moment in der Entwicklung der modernen europäischen Literatur, das zuerst von den Romantikern des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde. Den Ansprüchen und Erkenntnissen der Aufklärung nach Rationalität wurde das Unbewußte, als unterdrückte und abgespaltene Seite des Lebens entgegengesetzt, indem es in der literarischen Darstellung innerhalb der der Vernunft zugänglichen Wirklichkeit situiert wurde. Die Inhalte der Träume, die Bilder der Psyche wurden damit als Teil unserer Erfahrungswelt ausgewiesen, als zur Realität dazugehörig.
Buzzatis Beschreibungen unserer Wirklichkeit sind denkbar sparsam. Zur Kennzeichnung von Orten und Personen verwendet er nur allgemeinste Daten, die oft nicht über den Gattungsnamen hinausgehen: Wir erfahren, daß die Geschichte in einer Stadt spielt oder in einem Zug; eine Gestaltung der Szene im Sinne eines literarischen Realismus, wie sie z. B. für Buzzatis Zeitgenossen Alberto Moravia so typisch ist, wird nicht unternommen, stattdessen erhält die Stadt Attribute, die sie von keiner anderen Stadt der Welt unterscheiden. Das gleiche gilt für Personen; zur Angabe ihrer Namen und Berufe gesellen sich weder eine Beschreibung ihres Äußeren noch eine psychologische Charakterisierung. So sind
Räume und Menschen bei Buzzati nicht konkrete und spezifische Fälle, sondern Abstraktionen: die banalsten Kennzeichen sind für ihn zugleich die wesentlichen. Auch hier schält sich ein Unterschied zum journalistischen Schreiben heraus: Vom konkreten Fallbericht einer Zeitungsmeldung geht Buzzati in seiner Literatur zu einer typisierenden Darstellung über. Diese Abstraktion dient ihm nun aber nicht dazu, über das Erkennen des Wesentlichen zu Erklärungen über die äußere und die innere Welt zu gelangen, sondern sie geschieht vielmehr mit dem Ziel, die sich vollziehenden Handlungen ihrer Erklärbarkeit zu entreißen, ihnen eine Eigendynamik, eine undurchschaubare, zufällige und schicksalhafte Eigenbewegung zuzuschreiben, auf die der Mensch keinen Einfluß hat. So wird für Buzzati auch die Angst zu einem beherrschenden Thema: der Verlust von ordnender Rationalität ist Traum und Alptraum.
Die Inhalte der Alp träume sind zuweilen zugleich Symbole für das Leben. So wird in der Erzählung „Schnellzug“ das unfaßbare, immaterielle Vergehen von Zeit durch eine Bewegung im Raum faßbar gemacht. Der Zug fährt unerbittlich durch vorbeiziehende Landschaften und trägt mit seiner Bewegung den Reisenden durch dessen Leben. An den einzelnen Halten des Zuges trifft der Reisende auf die verschiedenen Stationen seines Lebens, auf einen Geschäftspartner, seine Liebste, schließlich auf seine alte Mutter, und die Reise durch seine Lebenszeit wird zum Schauplatz der verpaßten Gelegenheiten: Der Fahrplan des Zuges / Lebens läßt dem Reisenden / Menschen keine Zeit, die ihm gebotenen Möglichkeiten zur Verwirklichung zu führen. Diese Bebilderung des Vergehens von Zeit, dem jedes Leben unterliegt, verdeutlicht uns die Unmöglichkeit, einen glücklichen Moment zu ergreifen und festzuhalten.
Der Originaltitel der Erzählung „Direttissimo“ verweist zugleich auf eine zweite Bedeutung: „direttissimo“ ist die absolute Steigerung von „direkt“, der Weg des Reisenden also der direkteste.
Das Leben erscheint hier reduziert auf die ständige Erwartung eines fernen Ziels, über das selbst nichts bekannt ist. Auch in der Erzählung „Die sieben Boten“ wird die Lebenszeit literarisch veranschaulicht in einer Bewegung im Raum, die der Erkundung seiner Grenzen gelten soll. Die räumliche Entfernung von dem Ort seiner Geburt wird für den Sohn des Königs zu einer genau kalkulierten Raum-Zeit-Relation, in der die angestrebte Kommunikation jeden Sinn verliert, da sich zwischen ihm und seinen Erinnerungen, seiner Vergangenheit, seiner ehemals vertrauten Vaterstadt ein täglich sich weitender Abgrund auftut und er seine Reise durch das Leben nur einsam als Entfernung vom Ausgangspunkt erfährt, ohne sein Ziel je zu erreichen. Es ist die Erfahrung der einzigen Begrenzung des
Weitere Kostenlose Bücher