Sieben Erzaehlungen
aber wenn man wüßte! Er ist nicht allein, er ist auch nicht kalt und fühlt sich nicht verlassen. Gott ist, für den Erzbischof, am Heiligenabend über alle Ufer getreten, die Kirchenschiffe sind von ihm buchstäblich überschwemmt, so sehr, daß die Türen Mühe haben, ihn eingeschlossen zu halten, und wenn auch Öfen fehlen, ist es doch so warm, daß die weißen Nattern in den Särgen der historischen Äbte erwachen, durch die Luftlöcher der Kellergeschosse hochsteigen und von den Balustraden der Beichtstühle freundlich den Kopf vorstrecken.
So an diesem Abend der Dom, überströmend von Gott. Und obwohl er wußte, daß es ihm nicht zustand, hielt sich Don Valentino besonders gern damit auf, das Betpult her-zurichten. Wie hätten sich damit Weihnachtsbaum, Truthahn und Champagner vergleichen können. Das tat er auch an diesem Weihnachtsabend, als er, mit solchen Gedanken beschäftigt, an ein Portal des Domes klopfen horte. „Wer klopft an den Türen des Domes“, fragte sich Don Valentino, „am Heiligabend? Haben sie noch nicht genug gebetet? Von welcher Ungeduld sind sie besessen?“ Und so mit sich sprechend, ging er, um zu öffnen, und mit einem Windstoß trat ein armer, in Lumpen gehüllter Mann ein.
„Welche Überfülle von Gott!“ rief der sich umschauend aus. „Wie schön! Man fühlt ihn sogar von draußen. Monsignore, könnten Sie mir nicht ein wenig von ihm abtreten? Bedenken Sie, es ist Weihnachtsabend.“
„Er gehört seiner Exzellenz, dem Erzbischof“, antwortete der Geistliche. „Er gebraucht ihn in einigen Stunden. Seine Exzellenz führt bereits das Leben eines Heiligen. Ihr dürft wirklich nicht erwarten, daß er jetzt auch noch auf Gott verzichtet. Und außerdem bin ich nie ein Monsignore gewesen.“
„Nicht einmal ganz wenig, Reverendo? So viel von ihm gibt es hier! Seine Exzellenz würde es nicht einmal merken!“
„Ich habe Nein gesagt ... Du kannst gehen ... Der Dom ist für das Publikum geschlossen“, verabschiedete er den Armen mit einem Fünf-Lire-Schein.
Aber als der Unglückliche den Dom verließ, verschwand gleichzeitig auch Gott. Bestürzt schaute Don Valentino umher, richtete den Blick hinauf zu den finsteren Gewölben: Nicht einmal dort oben war Gott. Die ganze großartige Zurschaustellung von Säulen, Altären, Katafalken, Armleuchtern, Wanddrapierungen, sonst so geheimnisvoll und mächtig, war plötzlich ungastlich und unheilvoll geworden. Und in ein paar Stunden würde der Erzbischof herabkommen. Erregt öffnete Don Valentino ein wenig eine der Außentüren und schaute auf den Platz hinaus. Nichts. Auch draußen keine Spur von Gott, obwohl es Weihnachtsabend war. Aus tausend erleuchteten Fenstern drang das Echo von Gelächter, Gläsergeklirr, Musik und sogar von Verwünschungen. Nicht Glocken, nicht Gesang.
Don Valentino ging in die Nacht hinaus, er durchschritt die vom Lärm ausgelassener Festmahle erfüllten Straßen der Stadt. Doch kannte er die richtige Adresse. Als er das Haus betrat, setzte sich die befreundete Familie gerade zu Tisch. Alle schauten sich freundlich an, und um sie herum war ein wenig von Gott.
„Fröhliche Weihnachten, Reverendo“, sagte der Familienvater. „Dürfen wir Sie einladen?“
„Ich bin in Eile, Freunde“, erwiderte er. „Wegen meiner Unachtsamkeit hat Gott den Dom verlassen, und seine Exzellenz kommt in kurzer Zeit, um zu beten. Könnt Ihr mir nicht den Euren geben? Ihr habt ihn nicht so sehr nötig, da Ihr in Gesellschaft seid.“
„Mein lieber Don Valentino“, sagte der Vater. „Sie vergessen, möchte ich meinen, daß heute Heiligabend ist. Gerade heute sollten meine Kinder Gottes weniger bedürftig sein? Ich muß mich wundern, Don Valentino.“ Im gleichen Augenblick, in dem der Mann dies sagte, glitt Gott aus dem Zimmer. Das fröhliche Lächeln erlosch, und der gebratene Kapaun fühlte sich zwischen den Zähnen wie Sand an.
Von neuem weiter durch die Nacht, durch verlassene Straßen. Weit mußte Don Valentino gehen, bis er ihn schließlich wiedersah. Er war an den Toren der Stadt angelangt, und vor ihm dehnte sich im Dunkel das Land aus, ein wenig erhellt vom Schimmer des Schnees. und über den Wiesen und den Reihen der Maulbeerbäume wogte Gott,
wie wenn er ihn erwarte. Don Valentino fiel nieder auf die Knie.
„Aber was tun Sie da, Reverendo“, fragte ihn ein Bauer. „Wollen Sie sich in dieser Kälte eine Krankheit holen?“ „Sieh dorthin, mein Sohn, siehst Du nichts?“
Der Bauer schaute ohne Staunen.
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