Sieben Jahre Sehnsucht
je ansehnlicher sie sind, desto schwerer ist es natürlich für ihre Frauen.«
»Ach. Wie das?«
»Sie werden anders behandelt. Man erwartet mehr von ihnen und gleichzeitig weniger. Man befreit sie von manchen Dingen und setzt bei anderen Dingen einen höheren Maßstab an.« Beth warf Jess einen Blick zu. »Ich will nicht despektierlich sein, Mylady, aber das sollten Sie wissen.«
Jess nickte. Das wusste sie bereits.
»Es handelt sich um Männer«, fuhr Beth fort, »die mehr Freiheiten mit weniger Konsequenzen genießen. Man vergibt ihnen öfter, als man eigentlich möchte. Und wir Frauen scheinen nicht anders zu können, als diese Männer zu mögen, obwohl es Kummer mit sich bringt. Hätte ich die Wahl zwischen einem Mann, der attraktiv und charmant ist, und einem anderen, der süß und geil ist, so würde ich Letzteren nehmen. Mit ihm würde ich nämlich viel glücklicher werden.«
»Du bist eine kluge Frau, Beth.«
Die Zofe zuckte die Achseln. »Die Lektionen sind hart erworben. Trotzdem bin ich für alle dankbar. Doch um die Wahrheit zu sagen, für Mr. Caulfield würde ich sogar eine Ausnahme machen. Es gibt gut aussehende Männer, und es gibt Männer, die einem den Atem rauben – zu denen er eindeutig gehört.«
»Das stimmt.« Weshalb es auch so schwer war, ihm zu widerstehen und sich die Konsequenzen vor Augen zu halten, die eine Liaison mit ihm nach sich ziehen würden. Sie musste für dieses Wagnis noch eine geeignete Rechtfertigung finden. Einige lustvolle Stunden waren da zu dürftig.
»Blicken Sie nicht so grimmig drein, Mylady. Sie sind völlig sicher.«
Sich alles andere als sicher fühlend, sah Jess ihre Zofe neugierig an. »Wie meinst du das?«
»Es ist zu früh für Sie. Sie sind noch in Trauer. Wenn das Herz noch nicht geheilt ist und wir einem anderen Mann begegnen, kann er uns helfen, unseren Liebeskummer zu vergessen. Doch eines Tages wollen wir nicht länger vergessen und schicken den Mann weg. Wenn für Sie dieser Zeitpunkt gekommen ist, werden Sie sich von Mr. Caulfield verabschieden, voller Dank und ohne Bedauern. Das ist für uns Frauen der Weg, um zu überleben, wenn unsere Männer von uns gehen.«
»Wirklich?« Jess gefiel der Gedanke, sie sei in Wahrheit davor gefeit, tiefere Gefühle für Alistair zu entwickeln. Es war seltsam … und zugleich erleichternd.
»Nun, die Frau, deren Herz noch heilt, hat keine Schmerzen, weil das Herz sich während dieses Prozesses zu einer Muschel schließt, bis es stark genug ist, wieder zu lieben.« Sie drückte Jess’ Arm und fügte hinzu: »Und ich würde mir wegen Mr. Caulfield auch nicht allzu viele Gedanken machen, Mylady. Er hat etwas sehr Besonderes an sich. Meiner Erfahrung nach haben solche Männer schon vor langer Zeit ihre eigene Muschel um sich geschlossen. Es gefällt ihnen darin, und sie haben nicht die Absicht herauszukommen.«
Ein Kind rannte über das Achterdeck. Der unerwartete Anblick irritierte Jess, und sie verlor den Faden. Der Knabe mit dem blonden Lockenschopf und den pausbackigen Wangen schien nicht älter als zehn, elf Jahre alt zu sein. Er stürmte auf den Steuermann zu, als ihm plötzlich jemand ein Bein stellte und der Knabe mit einem lauten Schmerzensschrei hinfiel.
Zu Jessicas Entsetzen über diese gemeine Tat gesellte sich kalte Wut, als der dafür verantwortliche Seemann den Jungen hochzerrte, ihm eine Ohrfeige gab und ihn mit groben Worten ausschalt, die ihr die Röte in die Wangen trieben. Der Bursche duckte sich unter der Flut der Beschimpfungen, hielt sein kleines Kinn jedoch tapfer in die Höhe gereckt.
Der Anblick des gedemütigten Jungen katapultierte Jessica schlagartig in die Vergangenheit zurück. Sie war wieder an jenem Ort, wo sie von Angst und aufsteigender Panik beherrscht wurde, während sie voller Schrecken auf den nächsten Schlag wartete. Denn es gab immer einen nächsten Schlag. Der kranke Zorn, der Männer wie ihren Vater und diesen Matrosen packte, nährte sich von steigender Brutalität; nur reine körperliche Erschöpfung bewahrte diese Männer davor, noch einen schlimmeren Schaden anzurichten.
Außerstande, das Geschehen tatenlos mit anzusehen, löste sich Jess aus Beths Arm und eilte auf den Seemann zu. »Aufhören!«
Der Matrose war so in seine Schimpftirade vertieft, dass er sie nicht hörte. Sie rief noch einmal, lauter diesmal, und erregte die Aufmerksamkeit des daneben stehenden Seemanns, der seinen Kameraden daraufhin anstupste.
Jess blieb vor der kleinen Gruppe stehen.
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