Sieben Jahre Sehnsucht
»Ich dulde es nicht, dass man Kinder so behandelt. Es gibt wirksamere Möglichkeiten der Erziehung.«
Der Mann musterte sie mit kalten, dunklen Augen. »Das geht Sie nichts an.«
»Achte auf dein Benehmen gegenüber Mylady!«, schimpfte Beth, was ihr einen finsteren Blick einbrachte.
Jess kannte diesen Blick gut. Der Mann kochte innerlich und musste seiner Wut unbedingt Luft machen. Es war eine traurige Tatsache, dass es viele Männer wie ihren Vater gab, Männer, denen das Einfühlungsvermögen oder der Wille fehlte, ihren Zorn auf gewaltlose Art zum Ausdruck zu bringen. Sie ließen ihren Hass an Schwächeren aus und waren moralisch derart deformiert, dass sie auch noch Lust daraus gewannen.
»Sie wissen nicht, wie man ein Schiff führt, Mylady«, sagte er mit höhnisch verzogenem Mund. »Deshalb sollten Sie es mir überlassen, einem kleinen Rotzbengel zu lernen, wie man an Bord überlebt.«
Andere Seeleute kamen näher, bildeten einen Kreis um sie, was Jessicas Panik steigerte.
»Ihn zu lehren«, korrigierte sie, ohne darüber nachzudenken. »Und wenn du das unter Lehren verstehst, sollte man jedem abraten, dein Schüler zu werden.«
Er schob die Hände in die Hosentaschen, wippte auf den Fersen und grinste sie durch seinen buschigen roten Bart böse an. »Wenn einem Seemann gesagt wird, er soll etwas holen, dann sollte er lieber nicht vergessen, was es war, das er holen soll, oder dass er es war, der es holen soll.«
»Er ist ein K-Kind!«, rief sie. Ihr kurzes Stottern traf sie wie ein Peitschenhieb. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück.
Die Erkenntnis, dass ihr allseits gepriesener und so hart erkämpfter Gleichmut so leicht zu erschüttern war, ließ etwas in ihr zerbrechen. Sie hatte sich eingeredet, sie könne als erwachsene Frau mit gewalttätigen Situationen umgehen, statt ihnen, wie damals als Kind, hilflos ausgeliefert zu sein. Sie hatte geglaubt, sie wäre stärker und könnte all die spitzen Bemerkungen machen, die sie sich als Kind ausgedacht hatte. Und da stand sie nun vor Angst zitternd und vor Anspannung bebend.
»Der Bursche ist als Erstes ein Seemann.« Brutal zog er den Jungen an den Haaren hoch, der mit einem leisen Aufschrei auf ihn zustolperte. »Und er muss lernen, dass man erwachsenen Männern nicht im Weg herumsteht.«
Sie nahm all ihren Mut zusammen. »Wie ich es beobachtet habe, war es dein Bein, das dem Jungen im Weg stand.«
»Lady Tarley.«
Alistairs Stimme ließ Jessica herumwirbeln. Die herumlungernden Matrosen wichen auseinander, um ihn hindurchzulassen, und das Gemurmel ringsum verstummte. Sein bloßes Auftreten gebot Aufmerksamkeit und Respekt. Erleichtert löste Jessica ihre zu Fäusten geballten Hände, ballte sie aber aus reiner Frustration gleich darauf wieder zusammen. Es war nicht richtig, dass sie einen anderen Menschen brauchte, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen, doch offenbar war es so, und das gab ihr das Gefühl, schwach und hilflos zu sein. »Ja, Mr. Caulfield?«
Forschend sah er sie an. »Ist meine Hilfe erwünscht?«
Jess rang einen Moment mit sich, ehe sie sagte: »Können wir unter vier Augen miteinander sprechen?«
»Selbstverständlich.« Er wandte sich den gaffenden Seemännern zu. »Zurück an die Arbeit.«
Rasch stoben die Männer auseinander.
Alistair deutete auf den Mann, der Jess so verärgert hatte. »Du da!«
Der Mann nahm seine zerschlissene Kappe ab. »Aye, Mr. Caulfield.«
Es war erstaunlich, wie Alistair plötzlich ganz anders wirkte. Als Jess seinen stechenden Blick bemerkte, bekam sie eine Gänsehaut. Sie hatte diese Kälte auch damals, als sie beide jung waren, wahrgenommen, jene Erbarmungslosigkeit, die Frauen und leichtsinnige Spielernaturen gleichermaßen verlockt hat-te.
»Achte auf dein Verhalten gegenüber dem jungen Matrosen«, warnte er in schneidendem Ton. »Ich dulde es nicht, dass auf meinem Schiff Kinder malträtiert werden.«
Eine Woge der Bewunderung und Freude durchströmte Jess. Offenbar hatte Alistair beim Näherkommen genug gesehen, um zu wissen, worum es ging, und seine Haltung zu diesem Thema bedeutete ihr sehr viel.
Sie streckte die Hand nach dem Knaben aus. »Vielleicht kann er mit uns unter Deck gehen?«
In den weit aufgerissenen Augen des Burschen spiegelte sich noch mehr Entsetzen als vorhin, als er gequält worden war. Heftig schüttelte er den Kopf und wich ein paar Schritte in Richtung der Seemänner zurück.
Im ersten Moment war Jess verwirrt, da sie Erleichterung und Dankbarkeit
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