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Sieben Jahre

Sieben Jahre

Titel: Sieben Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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heiße Jakob. Er sprach mit starkem Dialekt und sagte, er komme aus dem Bayerischen Wald, aus Oberkashof, um genau zu sein. Ob ich die Gegend kenne? Das muss bei Unterkashof sein, sagte ich, und er lachte schallend und schlug mir mit der Hand auf die Schulter. Du bist in Ordnung. Dann fing er an von Sonja zu schwärmen, die er ein sauber’s Derndl nannte. Ich weiß nicht, über welchen Umweg er auf Trachten zu sprechen kam und darauf, dass sie die ideale Bekleidung für den weiblichen Körper seien. Sie stützten die Brust und betonten die Taille und verdeckten die unvorteilhafteren Zonen an den Hüften. Stell dir Sonja in einem Dirndl vor, sagte er mit genießerischem Gesicht. Ich musste lachen. Unvermittelt fing er an, von Eunuchen zu reden. Er sprach von Früh- und von Spätkastraten und vom familiären Eunuchoidismus, von Schilf- und Silberröhrchen und von chinesischen Kastrationsstühlen mit schräger Lehne. Der Körperbau der Eunuchen sei durch den Mangel männlicher Hormone und den gestörten Eiweißstoffwechsel disproportioniert. Ich sagte, ich hole mir etwas zu trinken.
    Als ich am Tisch vorbeikam, hörte ich, wie Alice über den Tod Karajans sprach. Er habe noch eine Probe zu »Un ballo in maschera« geleitet, sagte sie, und ihre Stimme wurde schrill. Sie schüttelte den Kopf und hob den Blick zum Himmel wie eine Verrückte.
     
    Lass uns ihn gerettet sehen, ew’ger Gott!
O lass uns ihn, lass uns ihn gerettet sehn!
Er stirbt! – Er stirbt! –
O grauenvolle Nacht!
    Ich nahm mit Sonja die S-Bahn zurück in die Stadt. Beim Abschied hatte mich auch Rüdiger nach Iwona gefragt. Ich hatte abgewinkt, die Angelegenheit war mir peinlich, vor allem weil Sonja neben mir gestanden hatte. Im Zug fing sie prompt an, mich auszufragen. So, so, sagte sie mit einem ironischen Lächeln, eine Polin. Es ist nichts, sagte ich, Ferdi hat sie angesprochen, und dann sind wir sie einen Abend lang nicht mehr losgeworden. Die Polinnen sind temperamentvolle Frauen, sagte Sonja, nimm dich in Acht. Du solltest sie sehen, sagte ich, sie sieht nicht gut aus, und sie ist langweilig, sie redet nicht, und wenn sie doch einmal etwas sagt, ist es ein Gemeinplatz. Sonja schaute mich erstaunt an. Sei nicht gleich so aufbrausend. Und außerdem ist sie eine gläubige Katholikin, sagte ich. Die Frau interessiert mich wirklich nicht, ist das so schwer zu verstehen? Aber du hast sie nach Hause gebracht. Aus Anstand. Es ist nicht besonders anständig, wie du über sie redest. Ich verdrehte die Augen. Wenn Frauen sich solidarisieren, hält man besser den Mund. Auch Sonja schwieg eine Weile. Sie schien nachzudenken. Dann sagte sie, sie werde nächste Woche nach Marseille fahren, um sich die Cité Radieuse von Le Corbusier anzusehen, ob ich Lust hätte mitzukommen. Sie fahre mit dem Auto und wir könnten bei einer Freundin von ihr wohnen, einer deutschen Künstlerin, die in der Stadt lebe. Wegen des Lichts.
    Nach den Strapazen des Diploms würden mir ein paar Tage Ferien guttun, dachte ich, und die Reise würde nicht viel kosten. Vielleicht käme ich dann endlich von Iwona los. Bestimmt müsste ich nicht dauernd an sie denken, wenn ich mit Sonja zusammen war. Klar, sagte ich, gern. Viel versprechen tue ich mir allerdings nicht davon. Sonja lachte. Ich weiß schon, dass du keinen anderen Architekten neben dir gelten lässt, das ist die Arroganz der Genies. Ich schaute sie mit gespielter Herablassung an. Ich wusste, dass sie sich über mich lustig machte, trotzdem freute es mich, dass sie mich ein Genie genannt hatte.
     
    Am Montag wollten wir fahren. Wenn wir früh aufbrächen, hatte Sonja gesagt, könnten wir es an einem Tag schaffen. Also blieb mir nur der Sonntag, um alles vorzubereiten. Ich stand früh auf und ging in den Waschsalon, der im Keller eines der Hochhäuser war. Als ich aus dem Bungalow trat, schaute ich mich unwillkürlich um. Ich fürchtete wohl, Iwona könne mich bei meinem Tun beobachten. Es war mir, als beginge ich einen Verrat an ihr, indem ich mich auf die Reise mit einer anderen vorbereitete. Niemand war zu sehen. Vermutlich wusste Iwona gar nicht, wo ich wohnte. Bestimmt war sie jetzt in der Kirche und betete um mich. Der Gedanke machte mich wütend, und einen Moment lang dachte ich daran, ihr zu schreiben, sie solle mich in Ruhe lassen, ich wolle sie nie wieder sehen. Aber was hätte ich ihr vorwerfen können? Es war nicht ihre Schuld, dass ich dauernd an sie denken musste, dass sie Macht über mich hatte, ein Gedanke, der

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