Sieben Jahre
nicht beruhigen, und ich war so erschöpft von meiner Erregung, dass ich sie schließlich anfuhr und ihr drohte, wieder wegzugehen, wenn sie nicht aufhöre. Die ganze Zeit war es mir, als stehe ich neben mir und beobachte mich, angewidert von meiner Herzlosigkeit. Aber ich konnte nicht anders, und das erhöhte noch meine Wut und meinen Ekel vor mir.
Wir hatten Terminprobleme auf der Baustelle. Vielleicht hatte ich zu optimistisch geplant, vielleicht war es die Schuld der Handwerker. Bei den Bausitzungen trieb ich sie an, drohte ihnen mit Konventionalstrafen. Inzwischen wussten alle, wie es um das Büro stand, und wenn ich sie beschimpfte, wichen sie meinen Blicken aus und kritzelten in ihre Papiere. Der Juli war nass gewesen, was zu Verzögerungen geführt hatte. Im August war das Wetter besser, und endlich ging es voran mit den Arbeiten. Aber Mitte des Monats stürzte der Vorarbeiter der Klempner von einem Gerüst und verletzte sich schwer. Als ich auf die Baustelle kam, war er schon abtransportiert worden. Die Handwerker standen herum und diskutierten. Niemand konnte mir erklären, was geschehen war, alle hatten nur den Schrei gehört und dann den Aufprall. Das Gerüst war in Ordnung, das war sofort kontrolliert worden. Und was hat er?, fragte ich. Sie sagten, er sei ansprechbar gewesen. Die Rettungssanitäter hätten ihn auf einer Bahre davongetragen. Das muss nichts heißen, sagte ich. Ich sagte, es helfe nichts, wenn sie hier herumstünden. Sie schauten mich feindselig an und gingen wieder an die Arbeit. Am nächsten Tag erfuhren wir, dass der Klempner vier Rückenwirbel gebrochen hatte. Das Rückenmark war nicht betroffen, aber er würde für mindestens zwei Monate ausfallen. Wenigstens war es in der momentanen Lage kein Problem, Ersatz zu finden.
Ich fing an, mehr zu trinken. Ich blieb lange in der Mittagspause und trank Bier und manchmal Wein, bis ich müde war und nicht mehr an Arbeit zu denken war. Ich wusste, dass es eine Dummheit war, aber der Alkohol entspannte mich. Wenn ich getrunken hatte, schien mir die Situation weniger ausweglos, und meine Stimmung hellte sich etwas auf. Nach Feierabend trank ich weiter. Einmal, als ich mit Sophie im Auto nach Hause fuhr, übersah ich eine Ampel und stieß beinahe mit einem anderen Wagen zusammen. Danach trank ich tagsüber nicht mehr, dafür abends immer größere Mengen. Bald konnte ich ohne Alkohol nicht mehr einschlafen.
Irgendwann in dieser Zeit rief Rüdiger an. Er hatte mit Sonja sprechen wollen und sich, als man ihm sagte, sie sei nicht da, mit mir verbinden lassen. Sonja ist in Marseille, sagte ich. Rüdiger sagte, er sei in der Stadt, ob wir zusammen ein Bier trinken wollten. Eigentlich hatte ich keine Lust, irgendjemanden zu sehen, aber ich hatte schon lange vorgehabt, ihn einmal über Sonja auszufragen, und sagte zu.
Wir hatten uns in einem Biergarten verabredet, aber als wir uns trafen, war es so kühl draußen, dass wir in eine Kneipe gingen. Das Lokal war fast leer, in der Luft war ein ekelhafter Geruch, eine Mischung aus kaltem Rauch und Putzmitteln, aber Rüdiger schien es gar nicht wahrzunehmen und setzte sich an den erstbesten Tisch. Er sah gut aus und wirkte entspannt. Er hatte von unseren Schwierigkeiten gehört, und sicher sah er mir an, wie schlecht es mir ging, aber er ließ sich nichts anmerken. Er erzählte von der Schweiz, wo er sich gut eingelebt hatte, und von seinem Institut, das in der Nähe von Zürich lag, hoch über dem See. Ein kleines Paradies, sagte er und fing, ohne dass ich ihn gefragt hatte, von seiner Arbeit zu erzählen an. Er sprach von spontanen Netzwerken und von Lebensunternehmern, Menschen, die ihrem Leben gegenüber eine unternehmerische Grundhaltung hätten und sich immer wieder neu fragten, was sind meine Stärken, meine Vorlieben, meine Voraussetzungen? Was mache ich daraus? Wo will ich hin, und wie komme ich dorthin? Darin liegt die Zukunft, in der Ich- AG . Und was, wenn die Ich- AG Konkurs macht?, fragte ich. Natürlich gibt es Verlierer, sagte Rüdiger. So wie es aussieht, bewegen wir uns langfristig auf eine neue Klassengesellschaft zu, in der zwei Drittel der Bevölkerung immer mehr arbeiten müssen, um die sozialen Kosten zu tragen für das Drittel, das in der neuen Arbeitswelt keinen Platz findet. Ich sagte, das klinge nicht sehr schön. Es ist nicht meine Aufgabe zu urteilen, sagte Rüdiger strahlend.
Und sonst, fragte ich, wie geht es dir? Bist du immer noch mit dieser Elsbeth zusammen? Rüdiger
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