Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann
immer in den Ferien mit auf eine seiner Reisen in ferne Länder nahm. Der Professor war selbst ernannter Fachmann für übersinnliche Phänomene, und seine Bücher darüber waren in der ganzen Welt Bestseller. Ufos, Wiedergeburten und fantastische Fabelwesen waren seine Spezialgebiete. Stets trieb er sich in einem anderen Winkel der Erde herum, erforschte Ruinen untergegangener Kulturen, kletterte durch die Katakomben alter Kathedralen oder die Felsentempel längst vergessener Priesterkönige. Das war auch der Grund, weshalb Kyra seit dem Tod ihrer Mutter bei ihrer Tante Kassandra lebte, der Schwester des Professors. Wenn Kyra ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie ihren Vater kaum kannte. Nicht wirklich.
»Hier ist kein Mensch«, sagte Chris enttäuscht und ließ seinen Blick über die Wiese schweifen. Von der Bühne trennten sie etwa hundert Meter. Pappteller und Plastikbecher lagen im Gras verstreut. Je nachdem, wie der Wind stand, roch es abwechselnd nach schalem Bier, Urin und kalter Schaschliksoße.
»Die Bühne wird erst morgen abgebaut«, murmelte Kyra. »Ich hab’s in der Zeitung gelesen.«
»Du liest Zeitung?«, flachste Nils. »Wahrscheinlich die Kosmetiktipps.«
»In unserer Zeitung gibt’s so was nicht, Blödmann.«
Lisa grinste unsicher. »Nils liest auch Zeitung – alles, was im Umkreis von zwanzig Zentimetern rund um die Fußballergebnisse steht.«
»Hey, seid still!«, fuhr Chris sie an. Die drei anderen wechselten erstaunte Blicke. Nils schmollte und wedelte mit der Hand, als hätte er sich die Finger verbrannt.
»Da vorne ist was«, sagte Chris. » Jemand. «
Jetzt sahen sie es alle. Eine Gestalt war auf der Bühne erschienen. Niemand hatte sie kommen sehen. Es sah aus, als wäre sie geradewegs aus der leeren Luft aufgetaucht.
»Die Hexe!«, entfuhr es Lisa, ohne dass sie etwas dagegen hätte tun können – dabei kam es sogar ihr selbst reichlich überflüssig vor.
»Wir könnten sie mit Papptellern bewerfen«, schlug Nils trocken vor.
»Würdet ihr jetzt endlich still sein!«, zischte Chris den beiden zu.
Kyra beobachtete die Frau wie in Trance, gebannt und schweigend. Hexen wie diese waren die Todfeinde ihrer Mutter gewesen; das Arkanum stand für alles, gegen das sie gekämpft hatte. Auch Kyra spürte in sich einen verzehrenden Hass auf den Geheimbund der Hexen, als wäre mit den Sieben Siegeln auch das Empfinden ihrer Mutter auf sie übergegangen.
Chris warf Kyra einen fragenden Blick zu.
»Glaubst du, sie kann uns auf die Entfernung etwas tun?«
Kyra hob die Schultern. »Ich gehe zu ihr.«
» Was? « , entfuhr es Lisa und Nils wie aus einem Mund.
»Ich muss mit ihr sprechen.«
»Darauf wird sie bestimmt großen Wert legen«, bemerkte Nils. »Bevor sie dich röstet oder häutet oder –«
»Sie hat meine Mutter gekannt«, unterbrach Kyra ihn gedankenverloren. »Ich glaube, sie war dabei, als sie starb.«
Lisa schaute sie mit großen Augen an. »Diese Hexe hat deine Mutter umgebracht? Bist du sicher?«
»Ich spüre … irgendetwas. Eine … Vertrautheit.«
»Oh Mann«, murmelte Nils und verdrehte die Augen.
»Du solltest das nicht tun.« Chris versuchte es mit Vernunft statt mit Spott. »Nils hat Recht. Sie wird dich töten.« Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Genau wie deine Mutter.«
Lisa nickte heftig. »Deine Mutter hätte das nicht gewollt. Du bist doch völlig wehrlos.«
Kyra schüttelte den Kopf, als wären die Argumente ihrer Freunde winzige Schädlinge, die sich in ihrem Haar festkrallten; sie schleuderte sie alle von sich und blieb stur bei ihrem Entschluss. »Ich rede mit ihr. Ich allein.«
Nils bekam allmählich wirkliche Angst um sie.
»Kommt gar nicht infrage. Und wenn ich dich eigenhändig hier wegschleppen muss.«
Kyra wirbelte zu ihm herum, und sekundenlang loderte in ihren Augen ein unheilvolles Feuer, das ihn schlagartig zum Schweigen brachte – vielleicht ein Hauch jener Kräfte, die einst ihre Mutter besessen hatte. Hexenmacht. Nils war so baff, dass er kein Wort mehr herausbrachte.
Kyra setzte sich in Bewegung. Langsam, aber entschlossen entfernte sie sich von ihren Freunden und ging allein über die Wiese, einsam, eine kleine, verlorene Gestalt.
»Sie kann uns hier nicht einfach stehen lassen«, sagte Nils.
»Wir können sie nicht einfach gehen lassen«, meinte Lisa. Sie zitterte vor Aufregung und vor Angst – um sich selbst, aber mehr noch um Kyra.
Chris blickte Kyra starr hinterher. »Vielleicht weiß sie ja, was sie
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