Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann
zusammen. »Wo ist er?«
»Auf dem Hof … Er hat … die Einfahrt versperrt … mit den Zweigen.«
»Er kam plötzlich von der Straße«, rief Lisa. »So als hätte er nur darauf gewartet, bis wir in der Falle saßen.«
Kyra überlegte nicht lange. »Los, weiter nach oben.«
Auf dem Dachboden hatte Kyra ihr Zimmer eingerichtet. Durch eine Dachluke konnte man ins Freie gelangen. Das war besser als nichts – besser zumindest, als hier im Treppenhaus abzuwarten, bis die ersten Dornenranken einem die Luft abschnürten.
In Kyras Zimmer herrschte das übliche Chaos. Die vier sprangen über umherliegende Wäschestücke, aufgeschlagene Bücher und Comics, offene CD-Hüllen und die Sporttasche, die seit der letzten Turnstunde ungeöffnet auf dem Boden lag. Kyra war als Erste an der Dachluke und riss sie auf. Kühle Nachtluft schlug ihr entgegen.
Über das Dach konnte man einigermaßen gefahrlos zu einem der Türme des Stadttors klettern. Unten am Eingang war der Turm mit Brettern verrammelt, aber hier oben konnte man durch eine der alten Schießscharten einsteigen. Die Freunde waren schon mehr als einmal dort gewesen. Als Versteck war der Turm fast so gut wie das Hügelgrab.
Der Weg der vier verlief parallel zur Regenrinne, dahinter klaffte der Abgrund des Innenhofs. Irgendwo dort unten war der Mann im Mond mit seinen Dornententakeln – wenn er nicht schon unterwegs war und ihrer Spur durchs Haus folgte.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße!«, fluchte Nils, als er als Letzter hinaus aufs Dach kletterte. Die Schräge war ungemein steil, die Schindeln mit Moos bewachsen. Es hatte schon seit Tagen nicht mehr geregnet; solange das Dach nicht feucht wurde, war das Risiko, abzurutschen, überschaubar.
Was freilich nichts daran änderte, dass Angst unvorsichtig macht. Chris wäre fast in die Tiefe geschlittert, als er sekundenlang seinen sicheren Halt verlor. Kyra und Lisa gelang es im letzten Moment, ihn festzuhalten und weiterzuziehen. Hinter ihnen schimpfte Nils fortwährend wie ein Rohrspatz.
Kyra, die an der Spitze kletterte, erreichte die Schießscharte des Torturms. Sie wollte sich gerade hindurchziehen, als hinter ihrem Rücken etwas aus der Tiefe emporschoss.
Eine regelrechte Explosion aus Dornenzweigen peitschte aus dem Abgrund herauf, ein verästelter Strang, der an seiner Spitze auseinander faserte. Die einzelnen Enden tasteten suchend durch die Luft, auf der Suche nach Beute, nach Opfern.
Einer der stachligen Fangarme krachte unmittelbar hinter Nils auf die Dachschindeln. Schiefersplitter spritzten in alle Richtungen. Das Geräusch, das die Dornen auf dem rauen Stein verursachten, klang wie das Kreischen von Kreide auf einer Schultafel.
Kyra hechtete ins Innere des Turms, Chris und Lisa folgten ihr mit hektischen Bewegungen. Zuletzt packten sie Nils an den ausgestreckten Armen und zogen ihn herein.
Wie lange sie hier vor dem Mann im Mond in Sicherheit waren, wusste keiner zu sagen. Ein paar Minuten, Maximum. Wenn er ihnen über das Dach folgte, war ihr Schicksal besiegelt. Vorausgesetzt natürlich, er traf sie dann noch immer hier an.
»Wir müssen nach unten«, rief Chris aus und wollte die brüchigen Stufen hinabspringen.
»Und dann?«, erkundigte Nils sich keuchend. »Der Eingang ist verbarrikadiert. Da kommt keiner durch.«
»Nicht von außen«, bestätigte Kyra. »Aber von innen müsste es gehen, wenn wir uns nur fest genug gegen die Bretter werfen.«
Lisa fuhr sich aufgeregt durchs schweißnasse Haar. »Egal, was wir tun – wir sollten es, verdammt noch mal, schnell tun.«
Also liefen sie die schmalen Stufen hinunter, stolpernd, fluchend und halb verrückt vor Angst. Die Vorstellung, in der Umarmung der schrecklichen Dornenranken zu sterben, war … unvorstellbar. Es tat sogar weh, nur daran zu denken.
Im Erdgeschoss des Turms war kaum Platz genug für alle vier, und so drängten die beiden Jungen an den Mädchen vorbei und warfen sich mit den Schultern gegen den Bretterverschlag, der den Eingang statt einer Tür verschloss. Die Barrikade war an der Außenseite angebracht, was sie empfindlich machte gegen Gewalt von innen.
Bald schon splitterte das Holz an mehreren Stellen, und während Nils noch über seine schmerzende Schulter schimpfte, gelang Chris der endgültige Durchbruch.
Stolpernd stürzte er hinaus auf die Straße, fing sich ab und kam wieder auf die Beine. Die anderen folgten ihm. Aus der nahen Toreinfahrt zum Innenhof erklang Knirschen und Rascheln, das allmählich lauter wurde
Weitere Kostenlose Bücher