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Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann

Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann

Titel: Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Sonntag ein Mann zum Holzhacken in den Wald. Unterwegs begegnete er einem Fremden, der erklärte, er sei auf dem Weg zur Kirche. Der Fremde fragte: ›Wieso arbeitest du, alter Mann? Weißt du denn nicht, dass heute Sonntag ist?‹ Der Alte lachte und erwiderte: ›Ob Sonntag auf der Erde oder Montag im Himmel, für mich ist das alles einerlei.‹ Da wurde der Fremde rasend vor Zorn und rief: ›Dann sollst du dein Bündel fortan für immer tragen, alter Mann. Wenn du den Sonntag auf Erden nicht ehrst, so soll dein Mond-Tag im Himmel ewig währen.‹ Und mit diesem Fluch verbannte der geheimnisvolle Fremde den Alten für alle Ewigkeit ins Innere der Mondscheibe.«
    Lisa schauderte. »Ich wusste gar nicht, dass es auch christliche Hexer gibt.«
    Chris hob die Schultern. »Es gibt noch andere Versionen derselben Geschichte, aber im Grund erzählen sie alle das Gleiche. Immer wird ein Mann dafür bestraft, dass er an einem Feiertag Holz sammelt.«
    »Kein Wunder, dass er darüber sauer ist und jetzt hier unten Amok läuft«, sagte Kyra nachdenklich.
    Nils wippte nervös mit dem Fuß. »Tolle Geschichten, wirklich«, meinte er mürrisch und sah alles andere als begeistert aus. »Aber steht in dem Buch irgendwas darüber, wie man den Kerl wieder hoch auf den Mond befördert?«
    Lisa schnitt eine Grimasse. »So was in der Art wie ›Haben Sie gerade keinen Moses zur Hand, sprechen Sie die folgenden Worte …‹.«
    Chris schüttelte den Kopf. »Nichts. Hier ist ja nicht mal die Rede davon, dass er überhaupt zur Erde zurückkehren könnte. Diese Hexe muss ganz schön mächtig sein, um das zu bewerkstelligen.«
    »Als Sängerin zumindest war sie nicht schlecht«, meinte Nils zynisch.
    Lisa warf ihm einen mahnenden Blick zu, sagte aber nichts.
    Kyra seufzte. »Sieht aus, als müssten wir das Übel an der Wurzel packen.«
    »Schön gesagt.« Nils grinste schief. »Und was, bitte, soll das heißen?«
    »Die Hexe«, kam Chris Kyra zuvor.
    Lisa nickte. »Wenn wir ihr das Handwerk legen könnten –«
    »Das Handwerk legen?«, unterbrach Nils sie mit schriller Stimme. »Oh ja, toll, ganz toll. Wir gehen hin, hauen ihr eins auf die Nase, und –«
    »Wir haben das schon einmal geschafft, vergiss das nicht«, fiel Kyra ihm ins Wort. »Und damals waren es drei Hexen.«
    » Und Abakus«, ergänzte Lisa. »Außerdem hat sie ihren Fisch verloren.«
    »Sie ist eine verdammte Hexe! « , rief Nils aus. »Fisch hin oder her, sie wird eine Menge Wege kennen, um mit uns fertig zu werden.«
    »Wenn das so wäre, warum muss dann der Mann im Mond die ganze Arbeit für sie machen?«, fragte Kyra.
    Nils verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. »Ihr wollt echt zu ihr hingehen und sie –«
    »Töten«, sagte Chris.
    »Umbringen«, meinte Lisa.
    »Massakrieren«, bestätigte Kyra.
    Nils schüttelte ungläubig den Kopf. »Ihr seid verrückt!«
    »Verrückt und tot, wenn wir uns nicht beeilen«, entgegnete Chris, schlug das Buch zu und erhob sich. »Kommt, gehen wir.«
    Alle standen auf, auch Nils. Er sah aus, als hätte man ihn gezwungen, ein Pfund Fischlaich herunterzuschlucken.
    »Völlig verrückt«, murmelte er immer wieder, während sie den Hügel hinabliefen. »Alle völlig verrückt.«

Eine Hexe singt
    Die Bühne erhob sich menschenleer am anderen Ende der Festwiese. Mondlicht glänzte auf stählernen Streben. Der kühle Nachtwind erweckte die schwarzen Vorhänge an der Rückseite zum Leben wie eine Armee flatternder Gespenster. Man hatte alle technischen Geräte abgebaut, geblieben war allein das Gerüst mit seinen Bühnenbrettern und Stoffplanen, das Gerippe eines Stahldinosauriers. Kyra erschien das riesenhafte Gebilde wie etwas, auf dem die alten Azteken Menschenopfer dargebracht hätten. Mindestens fünfzehn Meter hoch und doppelt so breit, eindrucksvoll und – bei Nacht – bedrohlich zugleich.
    Nirgends war ein lebendes Wesen zu sehen. Die Wiese lag völlig verlassen da. Die letzten Feiernden hatten sich längst in die Hand voll Kneipen und Bistros zurückgezogen, die im Labyrinth der Giebelsteiner Gassen auf Gäste warteten.
    Hier draußen war niemand mehr.
    »Große weite Plätze finde ich im Dunkeln fast noch unheimlicher als irgendwelche Katakomben oder Wälder«, flüsterte Lisa mit schwankender Stimme.
    »Daran werd ich dich erinnern, wenn wir das nächste Mal mit dem Professor unterwegs sind«, erwiderte ihr Bruder leise. Er spielte auf Kyras Vater an, Professor Rabenson, der seine Tochter und ihre drei besten Freunde

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