Sieben Stunden im April
vielleicht auch noch ein paar andere Disziplinen, aber das will heute niemand mehr wissen und ich habe es vor lauter Leben vergessen. Ich hatte sehr lange Zeit keinen Kontakt mehr zu Margrit, so ungefähr dreißig Jahre lang. Ich hatte die Stadt verlassen. Sie nicht. Ich habe studiert. Sie nicht. Ich habe geheiratet und ein Kind bekommen. Sie nicht. Ich habe die Arbeitsplätze gewechselt. Sie nicht. Das weiß ich aber alles erst seit kurzem. Andere Menschen waren mir wichtiger.
Im Zusammenhang mit der Organisation eines Abi-Treffens habe ich auch Margrit angemailt und um ihre Adresse gebeten. Organisatorische Routine, nichts leichter als das. Routine, für die ich in meinem alten Leben nur ein mildes Lächeln übrig gehabt hätte. Ein mildes, müdes Lächeln für die, die sich solch einen Quatsch freiwillig ans Bein binden. Ich hatte keine Zeit für so etwas. Und erst recht keine Lust. Aber ich wäre natürlich zu dem Treffen gefahren. Ganz Diva, ganz erfolgreiche Beamtin, was ja nicht zwangsläufig ein Widerspruch in sich sein muss. Und schon im Vorfeld wäre klar gewesen, wer die schrägsten Geschichten zum Besten zu geben, wer den interessantesten Arbeitsplatz zu bieten hat. Früher, in meinem alten Leben.
Heute, im neuen Leben, das ich nun führe, sieht die Sache anders aus. Dürstend nach einer wie auch immer gearteten Beschäftigung trage ich Adressen zusammen. Die Frage, was ist denn aus dir geworden, mit einer Mischung aus Scham und Neugier und Angst erwartend. Meine Antwort fürchtete ich nicht minder.
Margrit hat meine E-Mail seltsam beantwortet. Zurück bekam ich ein geschriebenes Kauderwelsch, wenige kaum verständliche, relativ inhaltsleere Zeilen. Ich möge bitte anrufen, das Schreiben fiele ihr schwer. Gruß, Margrit.
Ich rufe eine Telefonnummer an in dieser Stadt, mit der ich einmal so verbunden war, die mich geprägt hat. Diese Stadt, die ich heute nicht mehr besonders schätze, die mir keine Heimat mehr ist. »Heimat ist nicht da, wo du die Bäume kennst, sondern wo die Bäume dich kennen«, sagt ein Sprichwort. Stammt es aus der Ukraine? Vielleicht. Das habe ich vergessen. Und die Bäume in meiner Heimatstadt erinnern sich schon lange nicht mehr an mich. Sie haben meinen Namen vergessen. Und auch mein Gesicht.
Ich rufe an. Margrit spricht klar und deutlich. Ich sehe die Züge einer Siebzehnjährigen vor mir. Meine Phantasie reicht nicht aus, mir eine nicht nur erwachsene, sondern nun alternde Margrit auszumalen. Sie freut sich, mich zu hören. Warum freut sie sich? Wir haben uns seit fast einem Menschenleben weder gesehen noch gehört. Richtige Freundinnen waren wir nie.
Sie sei Beamtin geworden bei irgendeiner Behörde, deren Bezeichnung pure Langeweile ausatmet und deren Aufgaben so abstrakt sind, dass ich sie mir nicht merken wollte. Schon vor vielen Jahren habe sie sich von ihrem langjährigen Freund, auch ein gemeinsamer Mitschüler, getrennt. Sie habe jetzt einen Lebensgefährten. Rentner. Mir kommt nicht in den Sinn, zu fragen, wer er ist, wie er heißt, wie er lebt. Kinder habe sie keine, aber einen kleinen Hund. Wie putzig. Und nun, es täte ihr leid, käme ihre Krankengymnastin. Ob sie mich anderntags zurückrufen könne. Ja, das könne sie. Und das tut sie.
Krankengymnastin? Wieso Krankengymnastin? Eine Frage. Zunächst nur eine beliebige Frage, um dieses eigenartige Telefonat irgendwie, Interesse heuchelnd, fortzusetzen und den Gesprächsfaden vom Vortag wieder aufzunehmen. Sie sei doch seit einigen Jahren pensioniert. Kopfschmerzen, sehr, sehr starke Kopfschmerzen. Die Halswirbelsäule, habe es anfänglich geheißen. Dann weitergehende Untersuchungen. »Das gefällt mir nicht, das gefällt mir aber gar nicht«, habe der Arzt gesagt. Wie Ärzte eben reden. Dann die Diagnose: Hirntumor. Operation. Koma. Schließlich Reha. Und eine halbseitige Lähmung. Rollstuhl. Pensionierung. Mit Hund und Partner in einer Hildesheimer Wohnung sitzen und Worte suchen.
»Margrit, wie alt bist du?«
»Ich weiß nicht. Es fällt mir nicht mehr ein.«
Wir rechnen gemeinsam. Margrit ist genauso alt wie ich, lautet das Ergebnis.
Wir telefonieren häufig in der Folgezeit. Wenn Margrit die Worte gefunden und zu Sätzen zusammengefügt hat, ist das, was ich höre, ziemlich klug. Manchmal auch sehr lustig. Wir können gut zusammen lachen. Heute. Nach vierzig langen Jahren.
Sie habe Angst vor dem Klassentreffen. Sie schäme sich so. Sie säße doch im Rollstuhl. Du solltest dich nicht schämen,
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