Sieben Stunden im April
Latina. Unnahbar, aristokratisch, temperamentvoll. Stolz und schön. Das Alter spielt keine Rolle. Das Gewicht spielt keine Rolle. Keine Rolle spielt das, was hinter einem liegt. Oder vor einem. So gesehen ist eine Stunde Zumba pro Woche recht wenig. Es sollte eine pro Tag sein. Mindestens. Für alle Frauen dieser Welt.
Und Zumba ist gut für die Kondition. Walking im Stadtpark, dieses Relikt aus meinem alten Leben, fällt mir nun deutlich leichter. Organisatorisches Zentrum meiner Walking-Gruppe ist Barbara. Ich glaube nicht, dass Zumba ihr besonders gefallen würde, aber im Walking ist Barbara nicht zu schlagen.
Vergleich macht gelassen
»Walking-Gruppe, Frauen um die fünfzig, keine sex. Int., sucht Verstärkung.« So oder so ähnlich lautete der Text der Anzeigeunter »Vermischtes«, die ich samstags in der Zeitung gefunden habe, in meinem neuen Leben. In meinem alten Leben hatte ich nie Zeit, die Kleinanzeigen zu lesen. Aber auch keine Lust. Ich habe mich auf »Buntes aus aller Welt« und die Todesanzeigen beschränkt, auch in Städten, in denen ich keinen Menschen kannte. Aber das Gefühl, die Zeitung gelesen zu haben, mochte ich immer sehr.
Walken – dieses Relikt aus meinem alten Leben. Ohne Stöcke, weil: Wie dämlich sieht das denn aus! Ab in die Sportklamotten und dann drei oder vier Kilometer stramm durch die Feldmark. Mit oder ohne MP3-Player. Immer dabei hatte ich nur die Angst, mir könnten bissige Hunde begegnen. Riesenmodelle aus der Abteilung »Der will nur spielen«. Oder ein süßer, kleiner Dertutdochnix mit fiesen, spitzen Zähnen, hämischem Gesichtsausdruck, verwöhnt, verhätschelt und doof. Einer von denen, über die gesagt wird, sie seien Angstbeißer. Heute, in meinem neuen Leben, wäre die Angst, mir könnte beim Walking ein solches Vieh begegnen noch meine geringste Sorge. Richtig in Panik versetzt mich der Gedanke, wer mir sonst noch im Stadtpark entgegenkommen könnte. Ein fremder Mann vielleicht. Oder einer, den ich kenne. Oder zwei? Undenkbar. Undenkbar auch, für immer auf diese Form der Bewegung verzichten zu müssen.
Ich habe also auf die Anzeige geantwortet und gehe nun ein- bis zweimal wöchentlich mit den Mädels, alle so etwa in meinem Alter, walken. Unser Tempo liegt irgendwo zwischen verschärftem Einkaufsbummel und Stechschritt. Alleine wäre ich schneller, aber das Alleine gibt es in meinem neuen Leben zumindest beim Walken nicht mehr. Zeit zum Reden bleibt reichlich und vielleicht ist das ja auch der tiefere Sinn der ganzen Veranstaltung, bei der man selbst im Hochsommer nicht nennenswert ins Schwitzen gerät. Geredet wird über alles Mögliche, überAlltägliches, Banales, auch Persönliches. Barbara erwähnte Brustkrebs. Die stille, unauffällige, unaufdringliche, angenehme Barbara.
Ja, sie habe Brustkrebs. Ja, sie sei amputiert. Ja, sie habe Chemo erhalten. Und ja, das sei hart, sehr hart gewesen. Sie wisse nicht, ob sie gesund sei. Sie wisse auch nicht, ob sie je wieder ganz gesund sein werde. Ja, vor den Kontrolluntersuchungen habe sie Angst. Große Angst. Nein, der Befund habe sich nicht angekündigt. Es sei alles ganz plötzlich gekommen: Befund, Krankenhaus, Operation. Ja, sie sei alleinerziehend, und ja, für ihre Kinder, zwei Mädchen, sei das auch eine harte Zeit gewesen. Sie hätten mitgelitten. Eins ihrer Mädchen sei magersüchtig gewesen. Diese Tochter hatte gerade erfolgreich eine Therapie abgeschlossen, als sie ihren Befund erhalten habe. Ja, sie habe Depressionen gehabt. Und große Angst zu sterben. Zurzeit arbeite sie wieder stundenweise. Das täte ihr gut. Die Arbeit und regelmäßige Bewegung – beides täte ihr gut.
»Barbara, was hat dir beim Überleben geholfen, wo nimmst du deine Kraft her?«
»Meine Kinder. Meine Mädchen. Ich muss doch für meine Mädchen da sein. Ich hatte keine andere Wahl. Und ich bin zäh. Das war ich schon immer.«
Barbara, die stille, unauffällige, unaufdringliche, angenehme Barbara sagt das mit größter Selbstverständlichkeit. Ich höre genau hin, ganz genau. Ich fahnde nach dem, was sich zwischen den gesprochenen Worten verbirgt, nach Zwischentönen. Ich finde nichts. Barbara ist so alt wie ich. Margrit auch.
Viele Steine machen eine Brücke
Margrit kenne ich schon lange, ungefähr seit vierzig Jahren. Wir haben das gleiche Gymnasium besucht und dort zusammen Abitur gemacht. Aber nur, weil ich in der Oberstufe sitzengeblieben bin. Mathe und Latein waren die Problemfächer. Und Physik. Und Chemie. Und
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