Sieben Stunden im April
meines Mannes fest. Ich werde sie an den zweieinhalb Prozesstagen nur selten loslassen. Ich sehe diese Gestalt mit der Jacke über dem Kopf an und ich werde ruhiger. Ich setze mich zwischen meinen Mann und meinen Rechtsanwalt. Mein Sohn sitzt im Zuschauerraum. Erste Reihe. Ich kann ihn jederzeit ansehen und das ist auch gut so. Vor mir steht ein Plastikbecher mit Wasser. Glas ist verboten. Aus Sicherheitsgründen. Vor mir liegt ein Beruhigungsmittel. Verschreibungspflichtig. Stark. Ein Segen. Ich habe es nicht einnehmen müssen. Auch das ist ein Segen.
Er nimmt die Jacke vom Kopf, sieht sich um und ich sehe ihn an. Ich sitze ganz aufrecht und sehe ihn an. Sehr lange. Ich sehe ihn an und zwar so lange, bis er wegsieht. Er sieht weg. Das ist der Beginn meiner Verwandlung.
Das hohe Gericht erscheint. Prozessuale Vorgänge, persönliche Daten. Wer ist wer? Und worum geht es hier überhaupt? Wer ist der Herr an der Seite der Nebenklägerin? Ihr Ehemann. Aha. Ja, wir haben ein Attest vorliegen – die unmittelbare Anwesenheit des Ehemanns ist aus psychiatrischer Sicht zwingend erforderlich. Soso. Jaja. Ehemann – der auf der anderen Seite zuckt zusammen. Ein Hieb. Das letzte Opfer – tot. Das vorletzte Opfer – schwer geschädigt und bei der Verhandlung nicht anwesend. Die anderen Opfer – unbekannt, unwichtig, vergessen, verjährt. Einen Ehemann sieht er zum ersten Mal. Er hat Angst. Das sehe ich u nd das macht mich glücklich. Und er weiß noch nicht, dass er auch einen Sohn zum ersten Mal sehen wird. Er weiß nicht, dass das Schlimmste noch vor ihm liegt. Und das ist gut so.
Ich werde ruhiger und ich halte die Hand meines Mannes fest. So viele Menschen. Und ich bin ganz ruhig, sehe den auf der anderen Seite an und spüre meine Verwandlung, die ich erst viel später als solche erkennen werde. Zurzeit weiß ich nur, dass er weggesehen hat.
Die Anklageschrift wird verlesen. Ein juristisches Konvolut. Juristerei – das ist ein Handwerk, hat mir mal jemand gesagt, der wusste, wovon er spricht. Eine Gerichtsverhandlung – das ist die Lösung eines sozialen Konflikts nach bestimmten Regeln. Erwarte keine Emotionen. Er hat weggeguckt. Das reicht. Und ich halte die Hand meines Mannes.
Antrag der Verteidigung auf Ausschluss der Öffentlichkeit. Grund: Schutz der Intimsphäre des Mandanten. Verhandlungsunterbrechung. Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück. Mein Rechtsanwalt als Vertreter der Nebenklage berät mit. Warten auf dem Gang. Mein Mann und mein Sohn bilden einen Schutzwall zwischen mir und den Kameras und den Menschen, die mich ansehen. Die mich betrachten, die in mir lesen wollen.
Mein Rechtsanwalt kommt zurück. Jetzt bilden drei Männer einen Schutzwall gegen die neugierige Welt. Und auch gegen die Anteilnahme. Das Gericht beabsichtige, den Antrag auf Ausschluss der Öffentlichkeit abzulehnen. Das ginge aber aus formalen Gründen nur, wenn ich bereit sei, öffentlich auszusagen.
Öffentlich aussagen? Seit elf Monaten ist klar, dass die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden wird. Mir ist klar, dass wir den Antrag stellen werden. Wie könnte ich jemals meine Demütigungen öffentlich bekennen? Unter dieser Voraussetzung habe ich zugestimmt, dass mein Sohn mich begleitet. Mein Kind soll keine Details erfahren, so war der Plan. Blicke ruhen auf mir.
I ch suche auf dem Fußboden nach der Antwort. Ich muss entscheiden. In meinem alten Leben war ich meistens ziemlich gut darin, schnell zu entscheiden. Manchmal zu schnell.
»David, du wirst furchtbare Dinge hören. Schaffst du das?«
»Klar, Mama.«
»Sicher?«
»Klar. Oder willst du diesem Arsch wirklich Schutz zugestehen?«
Ja, er hat Arsch gesagt. Mit dem Recht, der Weitsicht und der Klarheit eines Siebzehnjährigen.
Ich sehe meinen Mann an, dessen Hand ich halte. Er nickt.
Ich sehe meinen Anwalt an: Er guckt. Ja, ich sage öffentlich aus.
Gut.
Die Entscheidung, die meine Verwandlung abgeschlossen hat, dauert nicht länger als zwei Minuten.
Fortsetzung der Verhandlung. Die Öffentlichkeit bleibt. Raunen im Saal. Freude bei den Journalisten. Nichts auf der gegenüberliegenden Seite. Dann spricht er. Er redet viel und lange und holprig. Nein, er habe mich nicht bedroht. Das Messer? Ach ja, das Messer … Also, er wisse auch nicht … Ich schweige und sehe ihn an und halte mich an meinem Mann fest. Ab und zu sehe ich meinen Sohn an.
Erst in den Nachmittagsstunden fange ich an zu sprechen. Langsam, klar und deutlich. An zwei oder drei Stellen
Weitere Kostenlose Bücher