Sieben Stunden im April
Völkerwanderung? Ohne mich.
Lach mal wieder. Sieh dir Willkommen bei den Sch’tis an und lach. Bitte. Lach.
Auch Jörg ist aus seinem alten Leben gerissen worden. Die sozialtherapeutische Abteilung, unsere Abteilung, die wir gemeinsam geleitet haben, stand nach der Katastrophe vor dem Aus. War in ihren Grundfesten erschüttert. Und eine Person fehlte. In den schlechteren Tagen, die wir natürlich auch hatten, haben wir mal eine Liste angelegt. Überschrift: »25 Gründe, weswegen wir gerne in Bayern arbeiten.« Diese Liste enthielt Punkte wie: weil das Weißbier schmeckt, weil der Dialekt lustig klingt, weil das Wetter besser ist. Und dergleichen mehr. Wir hatten viel Spaß mit unserer Liste, die im Laufe der Zeit immer länger wurde. Nun gab es plötzlich keinen Grund mehr für Späße. Eine Person fehlte.
In diesem neuen Leben, das Jörg nun zu führen und zu organisieren hatte, half keine Liste, kein Welpenblick. Nichts half. Niemand half. Jörg hat dieses alte Leben daher beendet. Konsequent. Stur. Ganz Ostfriese eben.
»Als norddeutscher Junge aber weiß man, dass es, um Kurs zu halten, für Boote einer gewissen Größe wetter- und seefester Steuermänner bedarf. Als Mensch sag ich im Bild bleibend: Den Opfern der hohen See, den über Bord und untergegangenen Ruderinnen und Ruderern, gebührt Respekt und Solidarität – immer.«
Das waren die kryptischen Worte, mit denen sich Jörg aus seinem alten Leben, das nun auch hinter ihm liegt, verabschiedet hat. Jörg ist kein Welpe mehr. Er hat sein Körbchen verlassen, sich nur kurz geschüttelt, um dann seinen Weg zu gehen. Konsequent und stur. Meine Solidarität hatte er, so hoffe ich, immer – nun hat er auch meinen tiefen Respekt. Ich kenne nämlich eine ganze Menge Leute, mich eingeschlossen, die oft mit dem Gedanken an Kündigung gespielt haben. Ich kenne niemanden außer Jörg, der die Courage gehabt hat, es auch wahr zu machen.
Worte aus einem neuen Leben in ein anderes neues Leben:
»Der Job muss sich noch beweisen, die Ausgangsbedingungen sind gut. Damals in der heilen Zeit war es so perfekt, unser Arbeiten, und es hat Spaß gemacht. So sinnvoll wird keine Arbeit mehr sein, aber immer wieder bin ich froh und stolz, das habe ich, das haben wir gehabt.« 5
Ja, Jörg, das haben wir gehabt. Und ja, Jörg, wir haben erlebt, was die alte Seefahrerweisheit tatsächlich bedeutet: Zwischen großer Klappe und Muffe liegen nur zwei Windstärken.
Vielleicht kommst du ja doch noch mal nach Japan, Jörg. Zum Sushiessen. Ich schreibe dir vorher noch ein paar japanische Sätze auf, falls ich es bis dahin kann.
Japanisch macht aggressiv
Sommer. Es ist Sommer. Der erste Sommer in meinem neuen Leben. Auch im Sommer hat der Tag genau 24 Stunden, aber es fühlt sich länger an.
Ich stehe zwischen 8 und 9 auf. Jeden Tag. Immer. Wenn ich anfangen würde, bis 12 im Bett zu liegen, um dann bis 3 im Bademantel rumzuschlurfen, wäre das der Anfang vom Ende. Dessen bin ich mir sehr bewusst.
Ich stehe also zwischen 8 und 9 auf, trinke einen Pott Kaffee, nehme meine Medikamente, gehe aufs Klo, dusche, wasche mirdie Haare, putze Zähne, ziehe mich an, hänge mir Klunker an und um, schminke mich, dezent und altersentsprechend versteht sich, fahre den PC hoch, checke E-Mails und trinke noch einen Kaffee. Dann ist es 9.30. Ich räume die Wohnung auf, mache das Bett, telefoniere, beantworte E-Mails, räume die Spülmaschine aus, manchmal gieße ich auch die Blumen oder schmeiße die Waschmaschine an. Es ist 10.
Ich telefoniere weiter, hole Post und Zeitung, lese beides. Es ist 10.30.
Ich checke noch mal die E-Mails. Es ist immer noch 10.30.
Ich überlege, was ich kochen könnte, und sehe dann auf die Uhr: 10.30.
Ich gehe auf den Balkon und sehe dem Wilden Wein ein Weilchen beim Wachsen zu. Ich lese ein bisschen. Ich grübele ein bisschen. Und ich widerstehe heroisch der Versuchung, den Fernseher anzuschalten. Es ist 10.45. Und kein Ende dieses Tages, der voraussichtlich auch wieder 24 Stunden haben wird, in Sicht.
Ich brauche eine Beschäftigung. Und zwar dringend. Oder, was der Wahrheit näher kommt: Ich brauche eine Beschäftigung, die sich zwanglos mit Panikattacken, Watte-Gefühl und sporadischer Unfähigkeit, das Haus zu verlassen, verträgt. Und eine Beschäftigung, die nicht nur darin besteht, ab und zu im Wartezimmer meines Psychiaters alte Stern -Ausgaben durchzublättern. Ich brauche eine Beschäftigung, die mir zumindest die Illusion einer wie auch immer
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